Verbindung von Kunst und Wissenschaft. 9
Der trockene Staub, der so lange auf den Werken der deutschen Ge—
lehrsamkeit gelegen, war wie weggeweht; die neue Wissenschaft fühlte sich
als die Schwester der Kunst. Ihre Jünger hatten allesamt aus dem
Becher der Schönheit getrunken, manche sogar in den Kreisen der Poeten
die bestimmenden Eindrücke ihres Lebens empfangen. Diez bewahrte noch
nach vielen Jahren das Blatt, worauf ihm einst Goethe den Titel von
Reynouards provenzalischen Forschungen aufgeschrieben und also dem
jungen Manne den Weg gewiesen hatte für die Arbeit seines Lebens.
Boeckh und Creuzer hatten so manche Nacht auf dem Faulen Pelz mit den
Schwarmgeistern der Heidelberger Romantik durchzecht und durchjubelt,
J. Bekker mit Uhland gemeinsam in den Schätzen der Pariser Bibliothek
geforscht; in den Studierstuben Savignys und der Brüder Grimm trieb
der Kobold Bettina Arnim zu Zeiten sein neckisches Wesen. Sie schauten
alle voll Ehrfurcht zu dem alten Goethe empor und scharten sich wie eine
unsichtbare Kirche um diesen zentralen Geist, der aus der Hand der Wahr-
heit den Schleier der Dichtung empfangen hatte und das Ideal der Zeit,
die lebendige Einheit von Kunst und Wissenschaft, in seinem Leben wie in
seinen Werken verkörperte. Sie alle bemühten sich, die Ergebnisse ihrer
Forschung in edler würdiger Form auszusprechen; die keusche Einfachheit
der Schriften Savignys, die mächtige Empfindung und die Fülle unge-
suchter, lebendig angeschauter Bilder in Jacob Grimms markigem Stile
beschämten die süßliche Künstelei mancher der neueren Poeten. An allen
Werken dieser Forscher hatten das warme Herz und die schöpferische, das
historische Leben nachdichtende Phantasie ebenso großen Anteil, wie der
Sammlerfleiß und der kritische Scharfsinn.
Und wie die Dichtung, so war auch die spekulative Arbeit des voran-
gegangenen Geschlechts der neuen Wissenschaft in Fleisch und Blut ge-
drungen. Nur weil der deutsche Geist sich so lange vertieft hatte in das
Problem der Einheit von Sein und Denken, konnte er jetzt sich ausbreiten
über die historische Welt ohne zu verflachen oder in der Masse der Ein-
zelheiten unterzugehen. Nicht umsonst hatten alle diese jungen Juristen,
Philologen und Historiker zu den Füßen der Philosophen gesessen. Sie
wollten durch die Geschichte in das Geheimnis des menschlichen Geistes
selber eindringen; sie strebten, wie W. Humboldt von sich gestand, eine
Anschauung von dem Werden der Menschheit und dadurch eine Ahnung
dessen, was sie sein kann und soll, zu gewinnen, den letzten Fragen alles
Seins näher zu treten. Daher der weite Gesichtskreis, die großartige
Vielseitigkeit dieses Gelehrtengeschlechts. Noch hatte man die weite Feld-
flur der historischen Welt kaum erst in Besitz genommen; wer durch
diesen jungfräulichen Boden seine Pflugschar trieb, streute mit freigebigem
Wurfe seine Samenkörner auch über den Acker des Nachbars aus. Fast
alle bedeutenden Gelehrten gehörten mehreren Fächern zugleich an, und
jeder hielt, indem er sich in das Einzelne versenkte, den Blick immer fest