10 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
auf den großen Zusammenhang der Wissenschaften gerichtet. Es war der
Stolz dieses fruchtbaren Geschlechts, durch die Aufstellung genialer Hypo-
thesen und großer Gesichtspunkte die Wege zu weisen, welche nachher die
gewissenhafte Einzelforschung zweier Generationen für alle Welt gangbar
gemacht hat.
Durch das Aufblühen der Wissenschaft traten die Universitäten in
den Vordergrund des geistigen Lebens der Nation. Zu allen Zeiten hatten
sie an den Kämpfen und Wandlungen der deutschen Gedankenarbeit ihren
reichen Anteil genommen; jetzt aber übernahmen sie wieder die führende
Stellung im Reiche des Geistes, wie einst zur Zeit des Humanismus
und der Anfänge der Reformation. Das Professorentum erlangte nach
und nach einen bestimmenden Einfluß auf die Sitten und Anschauungen
unseres Volkes, wie in keinem anderen Lande; unter den hervorragenden
Schriftstellern der folgenden Jahrzehnte fanden sich nur wenige, die nicht
auf längere oder kürzere Zeit ein akademisches Lehramt bekleideten. Die
Berliner Universität überflügelte bald alle anderen; an ihr wirkten in
diesen Jahren die meisten reformatorischen Köpfe deutscher Wissenschaft;
doch war sie nie mehr als die erste unter Gleichen, für eine Zentrali-
sation der Bildung bot dies Land keinen Boden. Niemals sind unsere
Hochschulen so wahrhaft frei, so tief innerlich glücklich gewesen wie in
jenen stillen Friedensjahren. Die streitbare Jugend brachte neben ihren
teutonischen Unarten, ihren anmaßlichen politischen Träumen doch auch
einen schönen Enthusiasmus, eine warme Empfänglichkeit für die Ideale
mit von den Schlachtfeldern heim; die wüste Roheit und Völlerei der
alten Zeiten kehrte so nicht wieder. Der Unterricht blieb von zünftigem
Zwange und zünftiger Abrichtung frei; denn jeder fühlte, daß in der
Wissenschaft selber alles noch in jugendlichem Werden war. Niemand
verwunderte sich, wenn ein Gelehrter noch in reifen Jahren von einem
Fache zum andern übersprang oder wenn ein Philolog, wie Dahlmann,
der nie eine historische Vorlesung gehört, auf den Lehrstuhl der Geschichte
berufen wurde. Wer das Zeug hatte, selber ein Meister zu werden, den
fragte niemand: wessen Schüler er sei? Die meisten Dozenten betrieben
ihr Lehramt mit liebevollem Eifer; aber wenn ein heller Frühlingstag
ins nahe Gebirge hinauslockte, dann schrieb auch der Fleißige ohne Um-
stände sein hodie non legitur an die Tür des Hörsaals.
Um bedeutende Lehrer der Philosophie, der Geschichte, der Philologie
drängten sich die Studenten aus allen Fakultäten, und mancher lebte
Jahre lang in solchen Studien bevor er an sein Berufsfach dachte. Denn
noch verstanden die Gymnasien, weil sie die geisttötende Vielwisserei ver-
mieden, die dauernde Freude am klassischen Altertume und den Drang
nach freier menschlicher Bildung in ihren Schülern zu erwecken. Und
noch war die Krankheit der heutigen Universitäten, die Examen-Angst fast
gänzlich unbekannt. Die altberühmten Heimstätten der klassischen Ge-