Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

296 II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe. 
Wie einst das Zeitalter unserer klassischen Dichtung seine Bühne 
außerhalb Preußens aufgeschlagen hatte, so fanden jetzt die neuen politischen 
Ideale, welche die Wortführer der öffentlichen Meinung als den eigentlichen 
Inhalt der Epoche priesen, in Preußen keinen Boden, und der Staat, dessen 
gutes Schwert den Deutschen soeben erst die Tore einer neuen Zeit geöffnet 
hatte, erschien der liberalen Welt wie eine erstarrte Masse, wie ein Blei— 
gewicht, das die freien Glieder der Nation in ihrer Bewegung hemmte. 
Befangen in dem Glauben, daß alles Heil der Völker in den konstitutio— 
nellen Formen enthalten sei, hatte man kein Auge mehr für Preußens 
Heerwesen und Handelspolitik, für die stille Arbeit, welche dort den Neu— 
bau des deutschen Staates vorbereitete, und während jede Verhandlung 
der schwäbischen Kammern in der Presse mit leidenschaftlicher Teilnahme 
erörtert wurde, blieben die Zustände Preußens draußen im Reiche so un— 
bekannt, daß jedes lächerliche Märchen auf gläubige Hörer rechnen konnte. 
Die süddeutschen Verfassungen wurden wirklich, wie die Höfe von München 
und Stuttgart von vornherein gehofft, eine Stütze des Partikularismus. 
Die Redner der kleinen Landtage führten zwar die deutsche Einheit im 
Munde, aber der Ernst ihrer politischen Arbeit blieb auf die heimischen 
Grenzpfähle beschränkt, und da am Bundestage die Politik des Absolutis— 
mus die Oberhand behielt, so begannen sie bald die Heimat als den 
konstitutionellen Musterstaat, als die Hochburg deutscher Freiheit und Auf— 
klärung zu preisen und gelangten schließlich zu der naiven Ansicht, ihre 
Landesverfassung stehe über den Bundesgesetzen. 
Welch ein Unglück für unsere politische Bildung, daß diese so lang— 
sam der Vereinzelung entwachsende Nation ihre ersten konstitutionellen 
Erfahrungen in dem Scheinleben ohnmächtiger, unselbständiger Staaten 
sammelte. In dieser Enge erhielt der deutsche Parlamentarismus von 
Haus aus das Gepräge kleinstädtischer und kleinmeisterlicher Beschränktheit. 
Die schwere Schicksalsfrage des festländischen konstitutionellen Staatslebens 
— die Frage, wie sich die parlamentarischen Formen mit der Macht eines 
streitbaren Heeres und dem stetigen Gange einer großen europäischen 
Politik vereinigen lassen — konnte in so abhängigen Gemeinwesen gar 
nicht aufgeworfen werden. Jeder politische Streit ward hier zum per— 
sönlichen Zanke, und da der Bestand des Königtums von Napoleons 
Gnaden weder Ehrfurcht noch Schonung gebot, so entstand aus dem Un— 
segen der Kleinstaaterei eine krankhafte Gehässigkeit des Parteikampfes, 
der weder dem gutherzigen Charakter noch den leidlich gesunden sozialen 
Zuständen unseres Volkes entsprach. Am letzten Ende ward die Haltung 
der kleinen Höfe durch den Willen Osterreichs und Preußens bestimmt; 
so lange diese führenden Mächte sich dem konstitutionellen Systeme ver— 
sagten, blieben die Oppositionsparteien der neuen Ständeversammlungen 
ohne jede Aussicht jemals selber an das Ruder zu gelangen. In solcher 
Stellung ohne ernste Verantwortlichkeit gewöhnten sie sich an alle Sünden
	        
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