34 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
den Konfessionen des Augustinus hatte niemand mehr das allerschönste
Geheimnis des Menschenlebens, das Werden des Genius, so tief, wahr
und mächtig geschildert. Jenem strengen Heiligen verschwanden die Ge-
stalten des Diesseits gänzlich neben dem zermalmenden Gedanken der
Sündhaftigkeit aller Kreatur und der Sehnsucht nach dem lebendigen
Gotte; hier aber redete ein weltfreudiger Dichtergeist, der in der Lebens-
fülle der Schöpfung die ewige Liebe anzuschauen suchte und von den höch-
sten Flügen des Gedankens immer wieder zurückkehrte zu dem einfältigen
Künstlerglauben: „wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Pla-
neten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und
Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zu-
letzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?“ Ebenso
ehrlich wie einst Rousseau bekannte Goethe die Fehler und Irrgänge seiner
Jugend; doch bewahrte ihn sein sicheres Stilgefühl vor jener gewaltsamen,
gesuchten Offenheit, die zur Schamlosigkeit führt. Er legte nicht wie der
Genfer auch jene halb unbewußten widerspruchsvollen Aufwallungen des
Gefühles bloß, welche allein durch ihre Flüchtigkeit erträglich werden und
in der ausführlichen Darstellung fratzenhaft erscheinen, sondern gab nur
das Wesentliche seines Lebens: er erzählte, wie er zum Dichter geworden war.
Wenn aus Rousseaus Geständnissen zuletzt doch nichts übrig blieb
als die wehmütige Erkenntnis der Gebrechlichkeit des Menschen, der
zwischen seinem Urbild und seinem Zerrbild, zwischen dem Gott und dem
Tiere haltlos dahinschwankt, so überkam die Leser von Dichtung und
Wahrheit das frohe Gefühl, daß dem deutschen Dichter in zweifachem
Sinne gelungen war was Milton einst von dem Poeten verlangte: sein
Leben selbst zu einem wahren Kunstwerke zu gestalten. Wie er das Ta-
lent von der Mutter, den Charakter von dem Vater ererbt hatte und
nun nach und nach mit ungeheuerer Beharrlichkeit sich ausbreitete über
den ganzen Bereich menschlichen Schauens, Dichtens und Erkennens —
auf jeder Stufe seiner Entwickelung erschien dieser Geist gesund, vorbild-
lich, der Natur gemäß und darum so einfach in allen seinen wunderbaren
Wandlungen. Die geistreiche Fanny Mendelssohn sprach nur die Emp-
findungen aller Leser aus, als sie weissagte: diesen Mann werde Gott
nicht vor der Zeit heimrufen; der müsse auf Erden bleiben bis zum höch-
sten Alter und seinem Volke zeigen was es heiße zu leben. Die Ver-
ehrung für Goethe ward ein Band der Einheit zwischen den besten Män-
nern dieses zerrissenen Volkes; je höher ein Deutscher in seiner Bildung
stand, um so tiefer beugte er sich vor dem Dichter. Wohl hörte man
aus dem Tone des Buches heraus, daß Goethe einst selber von seinen
Jugendtagen gesagt hatte: man hätte mir eine Krone auf das Haupt setzen
können, und ich würde mich nicht gewundert haben. Und doch stand er
viel zu hoch, um auch nur berührt zu werden von jenen unwillkürlichen
Regungen der Selbstgefälligkeit, die sich fast in allen Konfessionen zeigen.