40 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Gesinnung verächtlich; ihre verständige Wasserklarheit erinnerte ihn an
den alten Nicolai und erfüllte ihn zugleich mit Besorgnis, denn er lebte
des Glaubens, die reine Verstandesbildung führe zur Anarchie, da dem
Verstande keine Autorität innewohne. Bald bemerkte er auch mit Ekel,
wie der junge Liberalismus in denselben unduldsam gehässigen Ton ver-
fiel wie einst der Ketzerrichter der Berliner Aufklärung und alle Anders-
denkende als Fürsten- oder Pfaffenknechte verfolgte. Diesen Sklaven der
Parteimeinung hielt er entgegen: es gehe nur einen wahren Liberalismus,
die Liberalität der Gesinnungen, des lebendigen Gemüts.
Mit unüberwindlichem Abscheu erfüllte ihn das aufblühende Zeitungs-
wesen; ihm entging nicht, wie verflachend und versandend dies Haschen nach
den Tagesneuigkeiten, diese ungesunde Vermischung von ödem Klatsch und
politischer Belehrung auf die allgemeine Bildung wirken, welche Frechheit
und Nichtigkeit unter allen diesen unverantwortlichen Namenlosen, die
hier über Menschen und Dinge zu Gericht saßen, aufwuchern mußte.
„Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung“ schien ihm der einzige Gewinn
aus der belobten Preßfreiheit. Achselzuckend wendete er sich ab von den
Götzen des Tages: „wer in der Weltgeschichte lebt, dem Augenblick sollt' er
sich richten?" — Wie war es doch so still geworden um den Alten! Auch
Herder und Wieland waren dahingegangen, und das schöne Verhältnis
zu seinem fürstlichen Freunde wurde durch eine unwürdige Kränkung ge-
trübt. Der Dichter wollte nicht dulden, daß ein abgerichteter Hund dort
seine Künste zeigte, „wo der bekränzte Liebling der Kamönen der inm'ren
Welt geweihte Glut ergoß". Der Großherzog aber bestand auf seiner
Laune; Goethe mußte vor dem Hunde des Aubry weichen und zog sich
von der Leitung der Weimarischen Bühne zurück.
Die freie Heiterkeit seines Wesens blieb von alledem unberührt. Mit
jugendlichem Eifer verteidigte er in seiner neuen Zeitschrift „Kunst und
Altertum", wie vormals in den Propyläen, die klassischen Ideale. Der
Kunst-Meyer und die anderen unter dem gefürchteten Zeichen W. K. F.
versteckten Weimarischen Kunstfreunde unterstützten ihn im Kampfe wider
„die neue frömmelnde Unkunst“. Freilich stand der Dichter an der Schwelle
zweier Zeitalter, und hinter dem stolzen, zuversichtlichen Tone seiner
Polemik verbarg sich zuweilen ein Gefühl der Unsicherheit. Wie vormals
Winckelmann zugleich für die antiken Bildwerke der Villa Albani und für
die frostige Eleganz eines Raphael Mengs sich begeisterte, so kam auch
Goethe von seinem alten Genossen Tischbein nicht ganz los und schmückte
ein steifes Bild des Freundes, das von natürlicher Wahrheit wenig oder
nichts enthielt, mit den Versen: „heute noch im Paradiese wandern
Lämmer auf der Wiese, und Natur ist's nach wie vor!“ Dabei behielt
er doch Fühlung mit allen frei aufstrebenden Talenten der deutschen Kunst
und begrüßte mit warmem Lobe die ersten kühnen Schritte Christian
Rauchs.