Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

42 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
vollen; und nach seiner Gewohnheit ließ er die Natur frei gewähren. 
In solcher Stimmung las er die Übersetzung des Hafis von Hammer. 
Jener Drang in die Ferne, den die Weltfahrten der Romantik unter den 
Deutschen erweckt hatten, ergriff auch ihn; er fühlte, wie die ruhige, heitere 
Lebensweisheit des Orients seinen Jahren, die persische Naturreligion seiner 
eigenen Erdfreundschaft zusagte. Doch „etwas Unmittelbares in seine 
Arbeiten aufzunehmen“ war ihm unmöglich; er wollte und konnte nicht, 
wie Schiller, sich eines fremden Stoffs gewaltsam bemächtigen um ihn 
zu gestalten. Gemächlich lebte er sich nach und nach ein in die Formen 
und Bilder der persischen Poesie, bis seine eigenen Gedanken unwillkür- 
lich etwas von dem Dufte des Morgenlandes annahmen. 
Da führte ihn ein freundliches Geschick, auf jener Reise in die rhei- 
nische Heimat, mit Marianne von Willemer zusammen; es war, als 
sollte ihm allein das ernste Wort nicht gelten, das er zwei Jahre zuvor 
geschrieben: der Mensch erfährt, er sei auch wer er mag, ein letztes Glück 
und einen letzten Tag. Wie ward ihm wieder so jugendlich zumute 
in jenen sonnigen Herbsttagen, da er mit der schönen jungen Frau in 
den Baumgängen der Heidelberger Schloßterrasse lustwandelte und den 
arabischen Namenszug seiner Suleika in den Rand der Brunnenschale 
einritzte: „und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnen- 
brand.“ Was ihn dort beglückte war nicht eine übermächtige Leidenschaft, 
wie er sie einst für Frau von Stein empfunden, sondern eine warme und 
tiefe Herzensneigung für ein holdes Weib, das durch die Liebe des Dichters 
selber zur Künstlerin wurde. Gelehrig ging sie auf das orientalische For- 
menspiel des Freundes ein; im Wechselgesange mit Hatem dichtete Suleika 
jene melodischen Lieder voll süßer Sehnsucht und hingebender Demut, 
die während eines halben Jahrhunderts zu Goethes schönsten Gedichten 
gerechnet worden sind. Er aber erwiderte bald geistreich spielend, bald 
leidenschaftlich erregt; in glutvollen, mystischen Versen besang er den 
liebsten von allen Gottesgedanken, die Macht der zwischen zweien Welten 
schwebenden Liebe, die zusammenführt was sich angehört: „Allah braucht 
nicht mehr zu schaffen, wir erschaffen seine Welt!“ 
Dergestalt entstand nach und nach das letzte große lyrische Werk des 
Dichters, der Westöstliche Divan, ein bunter, nur durch das Band der 
morgenländischen Form zusammengehaltener Strauß von Liebes= und 
Schenkenliedern, von Sprüchen und Betrachtungen, von alten und neuen 
Bekenntnissen. Es fehlte nicht an streitbaren Worten; nicht umsonst gestand 
der alte Meister: denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein 
Kämpfer sein. Mit schonungslosen Worten schilderte er die Macht des 
Niederträchtigen unter den Menschen, und im scharfen Gegensatze zu der 
Liederseligkeit der schwäbischen Dichter sah er schon voraus, wie das Über- 
maß der Sangeslust das deutsche Leben zuletzt ernüchtern werde: „wer 
treibt die Dichtkunst aus der Welt? die Poeten!“ Den Grundton der
	        
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