522 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
fast bei allen berufenen Verbrechen der modernen Geschichte seine Rolle
spielt. Sand war nicht bloß aufgebläht durch den sittlichen Dünkel seiner
Sekte, sondern auch persönlich eitel: derweil er über seinen ruchlosen Ge—
danken brütet, zeichnet er sich auf ein Blatt sein eigenes Bild, wie er auf
den Stufen einer Kirche knieend sich den Dolch ins Herz drückt, an der
Kirchtür aber hängt mit einem anderen Dolche angeheftet das Todes-
urteil über Kotzebue. Sicherlich hat der unselige Mensch selbst geglaubt,
daß er seinen Entschluß in voller Freiheit gefaßt habe, denn nur die aus
eigener Überzeugung entspringende Tat ließ er gelten; es ist aber psycho-
logisch unmöglich, daß der menschenkundige Karl Follen, der mit seinem
Basiliskenblick den wehrlosen Schwachkopf vollkommen beherrschte und in
dieser dürftigen Seele wie in einem offenen Buche las, den Mordplan
nicht bemerkt und nicht befördert haben sollte. So gewiß die Ahre dem
Saatkorn entsprießt, ebenso gewiß erscheint der Prediger des politischen
Mordes vor dem sittlichen Urteil der Geschichte als der Urheber der
Ermordung Kotzebues. Ob Karl Follen auch im streng juristischen Sinne
als Anstifter zu betrachten sei, dies wird wohl für immer verborgen
bleiben. Ein Mitwisser des gefaßten Entschlusses war er unzweifelhaft;
er verschaffte, wie die Untersuchung herausstellte, dem Mörder das Reise-
geld für die Wanderfahrt nach Mannheim. Auch Wit von Dörring und
wahrscheinlich noch ein Dritter aus jener radikalsten Sekte der Unbe-
dingten, die man die Haarscharfen nannte, waren mit im Geheimnis;
aber gewiß keine größere Anzahl, denn Karl Follen unterrichtete seine
Getreuen in allen Schlichen und Kniffen des Kriminalprozesses, belehrte
sie sorgsam über ihr Verhalten vor dem Untersuchungsrichter und schärfte
ihnen vornehmlich ein, daß der Vaterlandserretter die Genossen nicht in
Gefahr bringen dürfe).
Mit der Ruhe des guten Gewissens trat Sand seine Reise an und
betrachtete unterwegs wißbegierig alle Sehenswürdigkeiten. In Mann-
heim fand er ohne Mühe Zutritt bei seinem arglosen Opfer, nach einigen
gleichgültigen Worten stieß er dem alten Manne plötzlich mit einem wilden
*) Diese Tatsachen mußten unglaubhaft erscheinen, solange sie nur durch die Denk-
würdigkeiten des elenden Denunzianten Wit von Dörring bezeugt waren; heute lassen sie
sich nicht mehr bezweifeln, seit ein vertrauter Freund der Gebrüder Follen, der Deutsch-
Amerikaner Friedrich Münch sie wiederholt auf das Bestimmteste zugegeben hat. (Münch,
Erinnerungen aus Deutschlands trübster Zeit. St. Louis 1873. Derselbe in der Deut-
schen Turnzeitung 1880. S. 403.) Münch beruft sich auf vertrauliche Mitteilungen
seines Freundes Paul Follen; er ist wohl der einzige noch Überlebende aus dem engeren
Kreise der Unbedingten, ein Mann von anerkannter Rechtschaffenheit, der an den Idealen
seiner Jugend noch heute festhält, und ich sehe nicht ein, warum die nachdrücklichen Ver-
sicherungen des ehrlichen Radikalen, die ohnehin nichts Unwahrscheinliches enthalten,
unglaubhaft sein sollen. Das zur Verteidigung Karl Follens geschriebene anonyme
Büchlein „Deutschlands Jugend in weiland Burschenschaften und Turngemeinden“ (von
R. Wesselhöft) ist nichts weiter als eine gewandte unaufrichtige Advokatenschrift.