72 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Schlegels geistreicher Dilettantenarbeit über „die Weisheit der Inder“
wurde auch die Verwandtschaft des Sanskrit mit dem Persischen, den
klassischen und den germanischen Sprachen fast allgemein als sicher an—
genommen, wenngleich der Beweis noch fehlte. Schon im Jahre 1816
erschien Bopps kleine Schrift über das Konjugationssystem des Sanskrit;
sie betrachtete den grammatischen Bau dieser ältesten Sprache im Ein-
zelnen, sie zeigte, wie das Futurum durch die Zusammensetzung eines
Hilfszeitworts mit einer Wurzelsilbe gebildet werde u. s. f., und erwies
sodann unanfechtbar die wesentliche Gleichheit der Formen und Wurzeln
des Zeitworts Sein im Sanskrit und in den alten germanischen Sprachen.
Der glückliche Entdecker erkannte die gotische Sprache als das Mittel-
glied zwischen dem Altindischen und dem Deutschen: „wenn ich den ehr-
würdigen Ulfilas las, so glaubte ich Sanskrit vor mir zu haben.“ Da-
mit kam die Kugel ins Rollen, denn bei Fragen solcher Art entscheidet
der erste Schlag. Nunmehr war ein fester Anhalt gewonnen um die
Grenzen der indogermanischen Sprachengruppe abzustecken, jeder einzelnen
dieser Sprachen ihren Platz näher oder ferner neben der ältesten Schwester
anzuweisen und dergestalt den historischen Stammbaum der Völker selbst
festzustellen. So durfte sich die vergleichende Sprachforschung in dem
Kreise der historischen Wissenschaften allmählich eine ähnliche Stellung
erobern wie die vergleichende Anatomie unter den Naturwissenschaften;
fuhr sie dann fort noch andere Sprachenfamilien zur Vergleichung herbei-
zuziehen und die Wörter überall in ihre einfachsten Elemente zu zerlegen,
so mochte sie dereinst auf einem unabsehbaren Wege, mit Hilfe der Natur-
forschung, noch höher aufsteigen bis zu dem großen Probleme der Ent-
stehung der menschlichen Sprache überhaupt, bis dicht an jene Schranken,
welche die Weisheit der Natur allem menschlichen Forschen gesetzt hat.
In der klassischen Philologie war schon seit dem Jahre 1795 ein
freieres Leben erwacht. Damals erwies Friedrich August Wolf durch die
Prolegomena zum Homer, daß die homerischen Gedichte aus Rhapsodien
entstanden seien, aus Werken der Volksdichtung, die der Volksmund durch
die Jahrhunderte fortgetragen und fortgebildet habe; und Goethe jubelte:
das homerische Licht geht uns neu wieder auf. Wolfs bleibende Bedeu-
tung lag aber nicht sowohl in dieser Hypothese selbst — denn sie ließ noch
vieles im Dunkeln und veranlaßte späterhin manche geschmacklose Ver-
irrungen des überfeinen gelehrten Scharfsinns — sondern in seinen völlig
neuen Ansichten über Wesen und Ziele der Philologie. Er entriß die
klassische Literatur den Händen der Asthetiker und überwies sie der histo-
rischen Kritik; er forderte von der Philologie, daß sie sich zur Altertums-
wissenschaft erweitere, daß sie das gesamte antike Leben nach allen Seiten
hin zu vergegenwärtigen suche, Sprache und Literatur nur als einzelne
Erscheinungen dieses Gesamtlebens auffasse, und zeigte durch seine mei-
sterhaften Vorträge in Halle, wie die Aufgabe zu lösen sei.