Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Erwachen des religiösen Gefühls. 91 
die Religion nur als ein politisches Schlagwort, da nun einmal Deutsch- 
tum und Christentum für gleichbedeutend galten, einzelnen gar nur 
als ein Deckmantel für den Judenhaß, der zum guten Tone gehörte. 
Gleichwohl lag ein gesunder Kern in der religiösen Schwärmerei des 
jungen Geschlechts. Die Deutschen erkannten endlich wieder, wie fest ihre 
ganze Gesittung mit dem Christentum verwachsen war, und diese Er- 
kenntnis griff so unaufhaltsam um sich, daß eine unbefangen heidnische 
Gesinnung, wie sie einst Winckelmann hegte, für die Söhne des neuen 
Zeitalters bald zur Unmöglichkeit wurde. Die Jugend drängte sich mit 
Vorliebe zu den Lehrern, welche für die Sehnsucht des gläubigen Ge- 
müts ein Verständnis zeigten. In Heidelberg fand der mit Creuzer eng 
befreundete ehrwürdige Daub, ein frommer geistvoller Mystiker, der das 
Dogma durch die Spekulation wiederherzustellen suchte, bei den Studenten 
ungleich mehr Anhang, als die Rationalisten. Seine Anhänger verglichen 
ihn mit Hamann, nannten ihn den Magus des Südens. In Jena ge- 
wann Fries, ein Philosoph ohne Schärfe und Tiefsinn, trotzdem die Herzen 
der Jugend, weil er mit ehrlichem Patriotismus und wissenschaftlichem 
Ernst eine ebenso aufrichtige Frömmigkeit verband. Seine Dialoge „Julius 
und Euagoras"“ blieben einige Jahre lang das beliebte Erbauungsbuch der 
teutonischen Studenten, denn hier lag die Kantische Philosophie ganz ebenso 
harmlos und unvermittelt neben der herrnhutischen Glaubensinbrunst wie 
in den Köpfen der jungen Leser selber. 
Fast in jeder deutschen Landschaft bestanden noch einzelne streng alt- 
gläubige Gemeinden, die mit zäher Treue an ihrem bibelfesten Geistlichen 
hingen und der Mißgunst der rationalistischen Konsistorien einen stillen 
unüberwindlichen Widerstand entgegenstemmten. So namentlich im Wup- 
pertale und unter den grüblerischen Schwaben, aber auch in Sachsen, 
in Pommern, in Altpreußen. In Breslau sammelten sich die Streng- 
gläubigen um Hendrik Steffens, den ehrlichen unstäten Schwärmer, der 
das harte Luthertum seiner norwegischen Heimat mit den Phantasie- 
gebilden der deutschen romantischen Philosophie zu verschmelzen wußte. 
In der Berliner vornehmen Gesellschaft bildeten einige begabte junge 
Männer, die einst als Offiziere „im Kriege zum Herrn geführt wurden“, 
einen gläubigen Freundeskreis: die Gebrüder Gerlach, Lancizolle, Le Coq, 
Thadden, Senfft-Pilsach, Goetze, Karl von Röder u. a. Hier verlebte der 
Kronprinz erbauliche Stunden, die für seine kirchliche und politische Ge- 
sinnung verhängnisvoll werden sollten; hier empfing er Hilfe für seine uner- 
müdliche Wohltätigkeit, hier ward auch der Plan für die Begründung 
des Berliner Missionsvereins zuerst besprochen. In allen Werken christ- 
licher Barmherzigkeit zeigte sich die streng kirchliche Richtung dem er- 
schlafften Rationalismus weit überlegen; zu ihr gehörte der Elsasser Oberlin, 
der unvergeßliche Wohltäter des Steintals, zu ihr Falk in Weimar, der 
zuerst eine Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder eröffnete. Auch an
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.