Erstarken der ultramontanen Partei. 215
Versuchung, dies Unheil nicht jenem Kaiserhause zuzuschreiben, das die
deutsche evangelische Bewegung mit Hilfe des romanischen Europas auf
halbem Wege gewaltsam aufhielt, sondern dem Reformator selber, der das
ganze Vaterland von der römischen Herrschaft zu befreien dachte. Die
alte, zumal in den Reichsstädten noch sehr lebendige Verehrung für das
fromme Erzhaus und die überlieferte Feindschaft gegen den Störenfried
im Reiche, den preußischen Staat, wirkten mit; und so entstand nach und
nach eine völlig verschrobene Ansicht von der vaterländischen Geschichte, die
späterhin in der Gemüthspolitik der großdeutschen Partei ihre Früchte trug
und zuletzt immer nur den Clericalen Vortheil brachte. Der liebenswürdige,
hochsinnige junge Frankfurter Johann Friedrich Böhmer, ein unpolitischer
Kopf, aber ein glänzendes wissenschaftliches Talent, verfiel jetzt schon gänzlich
dem Banne dieser historischen Traumwelt, obwohl er sich niemals ent—
schließen konnte, die evangelische Kirche förmlich zu verlassen; er pries die
Siege der Päpste über die Staufer, verdammte die Reformation, weil
sie Deutschland geheilt habe, und bewunderte die undeutsche Politik der
letzten habsburgischen Kaiser.
Zu Alledem noch die rastlose publicistische Thätigkeit des großen Wiener
Convertitenkreises und der unversöhnte Groll des katholischen Reichs—
adels, der den Raub von 1803 nicht verzeihen konnte; die geheime Be-
kehrungsarbeit in der vornehmen Welt und die zweideutige Haltung der
österreichischen Regierung, die in ihrem eigenen Lande den Clerus miß-
trauisch in Schranken hielt, in Deutschland dagegen alle ultramontanen
Umtriebe insgeheim unterstützte — und dies in einer Zeit, da der Pro-
testantismus zwar an wissenschaftlichen Kräften der alten Kirche unermeßlich
überlegen, aber durch Parteien zerrissen, in seinen Cultusformen vertrocknet,
in seiner Verfassung unfertig und mithin keiner Ausbreitung fähig war.
Also flossen aus vielen schmalen Rinnsalen und Bächen unmerklich die
Wasser zusammen, welche dereinst zur ultramontanen Hochfluth anschwellen
sollten. —
In Preußens westlichen Provinzen bekundete sich die zunehmende
Schroffheit der confessionellen Gesinnung schon durch manche bedenkliche
Reibungen. Das Jubelfest der Reformation und die persönliche Mitwirkung
des Königs erregten am Rhein viel böses Blut, die Blätter der fran-
zösischen Congregation wurden fleißig gelesen, und aus den nahen Nieder-
landen kamen beständig aufregende Nachrichten von den Kämpfen des
belgischen Clerus wider das Haus Oranien. In dem gläubigen Aachener
Volke lebte noch von den Geusenkämpfen her ein tiefer Haß gegen die
Protestanten, „die Güß"“; selbst die Beamtenkinder in den Schulen hatten
darunter zu leiden. Da viele der jungen evangelischen Offiziere und
Beamten an den liebenswürdigen Rheinländerinnen Wohlgefallen fanden,
so entstanden in mehreren Städten Vereine von alten und jungen Mädchen,
die einander gelobten niemals einen Protestanten zu heirathen. Die Theil-