Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

England und Hannover. 537 
britischer Freiheit und Größe, sie sangen das Rule Britannia wie ein 
hannoverisches Nationallied und widmeten dem mächtigen Schwestervolke 
eine brünstige Verehrung, welche von drüben nur mit insularischem Hoch- 
muth erwidert wurde. Selbst der Schwabe Spittler, zu seiner Zeit der 
freieste Geist unter allen politischen Denkern Deutschlands, konnte sich, 
als er in Göttingen lebte, der landläufigen Selbsttäuschung nicht entziehen; 
er fand, für die welfische Macht bleibe heute nichts mehr zu wünschen übrig 
als daß sie dauere, und sagte zufrieden: „Wir sind ja hier so gern Halb- 
Engländer, und gewiß nicht bloß in Kleidung, Sitte und Mode, sondern 
auch im Charakter.“ 
So wurde Kurhannover neben Baiern und Kursachsen eine der drei 
Hochburgen des deutschen politischen Particularismus. In Baiern erschien 
die particularistische Gesinnung naiv und naturwüchsig, in Obersachsen 
gehässig und bitter, in Hannover steif und dünkelhaft. Der alte Sonder- 
geist der Niedersachsen und die unvergessenen Erinnerungen aus den fernen 
Zeiten altwelfischer Größe verschwisterten sich mit dem neuen großbritan- 
nischen Selbstgefühle, und nach deutschem Brauche fanden sich auch bald 
gelehrte Systematiker, welche den englischen Parlamentarismus mit der 
kurhannoverschen Adelsoligarchie unter eine gemeinsame Formel brachten, 
an der Themse wie an der Leine überall denselben Segen „welfischer 
Freiheit“ entdeckten. Mit dem ganzen Stolze seines Englands blickte der 
kurhannoversche Beamte herab auf die armen Teufel, die nur Deutsche 
waren, und behandelte die hessischen Nachbarn so herablassend, als ob 
sein Kurfürst, und nicht das englische Parlament, dem Casseler Landgrafen 
die Truppen bezahlte. 
Unterthänige Federn erinnerten gern an die Freundschaft, welche schon 
vor Jahrhunderten zwischen dem Welfenhause und der englischen Krone 
bestanden hatte. Aber wie anders, Macht gegen Macht, waren einst 
Heinrich der Löwe und Kaiser Otto IV. dem Insellande gegenübergetreten. 
Jetzt war der deutsche Welfenstaat nur ein bescheidenes Nebenland des 
britischen Weltreichs, beständig mißbraucht von dem stärkeren Genossen. In 
der Hitze des Streits eiferten die Redner des Parlaments zuweilen wider 
den hannoverschen Einfluß und wünschten dies Land des Unheils im Meere 
versinken zu sehen; der Abscheu vor allem ausländischen Wesen lag den 
Briten so tief im Blute, daß sie den Welfen ihre deutsche Abstammung 
erst in der fünften Generation ganz verziehen. Als aber Lord Castlereagh 
nach den napoleonischen Kriegen die Summe zog aus den Erfahrungen 
des ersten Jahrhunderts englischer Welfenherrschaft, da mußte er selber 
ehrlich bekennen, Hannover habe durch die Verbindung mit Großbritannien 
mehr gelitten als gewonnen. Eine Ausbeutung, wie sie Kursachsen zu 
Gunsten Polens erlitt, ward von den drei ersten Georgen freilich nie ver- 
sucht; während ihr englischer Hofhalt durch die Bestechung der Parlaments- 
mitglieder beständig in Noth gerieth und das Haus der Gemeinen mehr-
	        
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