Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

692 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit. 
Bewußtsein gottbegnadeter Künstlerschaft. In der schwermüthigen Er— 
scheinung des Grafen August Platen bekundete sich dagegen schon die Zer— 
rissenheit eines neuen Geschlechts, ein düsterer Weltschmerz, „dem Leben 
Leiden ist und Leiden Leben“. Ein stolzer, hochstrebender Dichtergeist, 
dem nur die reichsten Kränze genügten, bildete Platen durch unablässigen 
Künstlerfleiß seinen angeborenen Sinn für Wohllaut und Formenreinheit 
zur Meisterschaft aus und brachte die Technik unserer lyrischen Dichtung 
auf ihre höchste Stufe. In Ghaselen und Sonetten, in den schwierigsten 
lyrischen Formen aller Zeiten und Völker bewegte er sich mit der gleichen 
Sicherheit, am natürlichsten doch in den rhythmisch bewegten Versmaßen 
der Alten; Niemand verstand wie er, ernste, würdige Gedanken in die 
langhinwallenden Falten einer feierlichen Ode zu schlagen. Aber es lag 
ein Hauch der Kälte über diesem kunstvollen Tongefüge. Dem Dichter 
fehlte die Liebe, wie Goethe ihm vorwarf: nicht bloß die Frauenliebe, die 
doch allezeit der Nerv der lyrischen Dichtung bleibt, sondern die Fähig— 
keit sich hinzugeben, ganz hinauszugehen aus seinem anspruchsvollen Ich. 
Er dichtete mehr für Dichter und Kenner als für die Masse der un— 
befangen Genießenden und liebte darum Stoffe, die von Historikern und 
Malern schon fertig gestaltet waren. Wenn er im Dogenpalaste an das 
Prachtgeländer der Riesentreppe gelehnt, des Volks von Königen gedachte, 
das diese Marmorhallen durfte bauen, dann zauberte er dem Kundigen 
mit wenigen majestätischen Worten eine Welt großer Erinnerungen, die 
ganze Farbenpracht der Bilder Paolo Veronese's vor die Seele; doch wenn 
er versuchte selber ins volle Menschenleben hineinzugreifen und zu er- 
zählen, wie dem alten Gondolier der Lagune zu Muthe war, dann sprach 
er kühl und matt. 
Seine Wirksamkeit reichte weit hinaus über die kleine Gemeinde fana- 
tischer Verehrer, die sich bald um seinen Namen sammelte, sie ist nur 
dem ganz verständlich, der in die Werkstätten der Schaffenden geblickt hat. 
Unzähligen Bildhauern, Malern, Dichtern wurde Platen ein stiller Lebens- 
begleiter, ein Tröster in den ästhetischen Versuchungen des Künstlerlebens, 
grade weil der Inhalt seiner Gedichte das Herz kalt ließ. An der ab- 
strakten Schönheit seiner Rhythmen lernte manche überreizte Phantasie die 
Gesetze des Maßes wieder verstehen, an dem Marmor dieser reinen Formen 
kühlte sich manche fiebernde Stirn. Solche Erfolge befriedigten den Ehr- 
geiz des Dichters nicht. Nur im Selbstlob geschmacklos, ward er nicht 
müde, sein eigenes Verdienst oder, was noch eitler klang, „den Genius, 
welcher besucht mich“ seinen Lesern anzupreisen. Der Mißmuth, der diesen 
Unbefriedigten verzehrte, entsprang nicht bloß dem Schmerz über die 
Widersprüche des Lebens und die dunklen Räthsel der Weltordnung, son- 
dern auch dem Gefühle innerer Unsicherheit. Platen empfand, daß seine 
Dichterkraft dem großen Wollen nicht entsprach. 
Verstimmt über den Kaltsinn seiner Landsleute und zudem gefesselt
	        
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