66 III. 1. Die Wiener Conferenzen.
liehen werden solle. So erschien das Grundgesetz, obwohl es in Wahr-
heit mit dem Landtage vereinbart war, der Form nach als eine gegebene
Verfassung, und das den strengen Monarchisten so unheimliche Schreckbild
eines politischen Grundvertrages war glücklich vermieden. Zur selben
Zeit wurde Leutnant Schulz aus der Armee entlassen, nachdem Prinz
Emil und die Offiziere seines Reiter-Regiments den Großherzog dringend
um „die Entfernung dieses Unwürdigen“ gebeten hatten; und nun erst
söhnten sich die Prinzen mit der neuen Ordnung der Dinge völlig aus.“)
Aus Ehrfurcht vor dem greisen Landesherrn ließen sich die Landstände
gleichfalls die Form der Verfassungsverleihung wohl gefallen, da sie in
der Sache doch fast alle ihre Wünsche durchgesetzt hatten; sie widersprachen
auch nicht, als der Minister die fragwürdige Behauptung aufstellte, daß
die Weisheit des Großherzogs schon im März Alles genau so wie es ge-
kommen sei vorhergesehen habe. Genug, Grolmann hatte, gewandt und
fest, zuerst die Radicalen geschlagen, dann die höfische Opposition, die bei
der beginnenden Altersschwäche des Großherzogs unberechenbaren Schaden
stiften konnte, gänzlich entwaffnet. Am 17. December wurde das Grund-
gesetz unterzeichnet und alsdann, unter neuen Ausbrüchen stürmischer
Freude, von den Kammern entgegengenommen.
Die hessische Verfassung war der badischen sehr ähnlich; jedoch be-
stand die erste Kammer, nach dem Vorbilde Württembergs, nur aus den
Standesherren und einigen vom Landesherrn Ernannten. Die Mitglieder
der Ritterschaft erhielten ihren Platz in der zweiten Kammer neben den
Abgeordneten der großen Städte und der gemischten Wahlbezirke, damit
„das aristokratische Princip nicht zu sehr die Oberhand gewinne“; und nach-
dem man während des Verfassungskampfes genugsam erfahren hatte, wie
niedrig die alten reichsunmittelbaren Geschlechter den Werth einer darm-
städtischen Pairie schätzten, so half man sich, gleich den Württembergern,
durch die wunderliche Vorschrift, daß eine nicht vollzählig erschienene
Kammer als einwilligend angesehen werden solle. Ueber die Beschluß-
fähigkeit der zweiten Kammer enthielt die hessische Verfassung, wie alle die
anderen neuen Grundgesetze des Südens, sehr kleinliche Bestimmungen.
Da die Bureaukratie den gesetzgebenden Körper wie ein Regierungs-
collegium, das seine Amtsstunden absitzen muß, betrachtete, und die Volks-
vertreter überdies Tagegelder bezogen, so forderten die süddeutschen Ver-
fassungen allesammt, daß mindestens die größere Hälfte, in Baiern und
Württemberg sogar zwei Drittel der Abgeordneten immer anwesend sein
müßten — eine pedantische Kleinmeisterei, welche seitdem eine traurige
Eigenthümlichkeit des deutschen Parlamentarismus geblieben ist und sein
Ansehen im Volke schwer geschädigt hat.
*) Eingabe des Prinzen Emil und der Offiziere des Chevauxlegers-Regiments an
den Großherzog, Nov. 1820.