Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Czar Nikolaus in Berlin. 741 
Verlangen der Nation nach der Rheingrenze zu widerstehen. Wie sich 
die Dinge auch wenden mochten, ein Krieg in solcher Lage, um einer 
Frage willen, welche dem deutschen Interesse fernablag, konnte dem 
preußischen Staate nur Opfer und Verlegenheiten bereiten ohne jede Wahr— 
scheinlichkeit großer Erfolge. Friedrich Wilhelm's Friedenspolitik hatte in 
den napoleonischen Zeiten viel Unheil verschuldet; diesmal war sie voll— 
berechtigt. 
Auch Czar Nikolaus wünschte jetzt aufrichtig den Frieden. Ernüchtert 
durch die bescheidenen Erfolge des ersten Feldzugs verzichtete er vorläufig 
auf die ehrgeizigen Pläne, mit denen er sich früher wohl getragen hatte, 
und suchte nur noch auf ehrenvolle Weise aus dem Handel herauszu— 
kommen. Einem europäischen Kriege sah er mit Besorgniß entgegen, denn 
auf Preußens Waffenhilfe konnte er noch nicht rechnen, und sein einziger 
sicherer Bundesgenosse König Karl X. stand am Rande des Grabes. Schon 
im December betheuerte er dem König von Preußen, wie lebhaft er nach 
Frieden verlange, und beschwerte sich zugleich heftig über England und 
das „infame“ Betragen Oesterreichs.) Als der Krieg im Frühjahr unter 
günstigen Anzeichen von Neuem begann, reiste Nikolaus nach Warschau 
und empfing dort unheimliche Eindrücke, die ihn in seiner Friedenssehn- 
sucht nur bestärken konnten. Den Polen war es ein Gräuel, daß ihr 
König nicht in ihrer alten Johannskathedrale, sondern im Thronsaale des 
Schlosses und nach griechisch-orthodorem Ritus die Krönung vollziehen 
ließ. Die Landboten verharrten in eisigem Schweigen, als der vorge- 
schriebene Hochruf angestimmt wurde; auch das Volk verhielt sich kalt, 
fast drohend; Jedermann fühlte, welche Leidenschaften hier gährten. 
Von Warschau aus wollte der Czar nach Sibyllenort reisen, um 
seinen Schwiegervater zu sprechen; Friedrich Wilhelm wünschte auch den 
Kaiser von Oesterreich zuzuziehen, der aber sagte auf Maltzahn's Andeu- 
tungen kein Wort, so bitter war schon der Haß zwischen den beiden Kaiser- 
höfen.*) Inzwischen wurde der König unwohl und mußte die Reise auf- 
geben. Da erschien Nikolaus am 6. Juni selber in Berlin, mit seiner 
Gemahlin und dem kleinen Thronfolger. Es war die erste jener theatra- 
lischen Ueberraschungen, welche sich seitdem noch oft wiederholten; der Czar 
liebte wie der Donnerer Zeus plötzlich aus dem Gewölk herauszutreten. 
Die Berliner empfingen ihre erlauchten Gäste mit überschwänglichen Hul- 
digungen, sie konnten sich nicht satt sehen an ihrer Charlotte und dem 
ältesten Enkel ihres Königs. Die Universität begrüßte den Befreier der 
Hellenen mit einer griechischen Ode; denn die philhellenische Begeisterung 
beherrschte die liberale Welt so gänzlich, daß selbst H. Heine und seine radi- 
calen Freunde sich über die Waffenerfolge des griechenfreundlichen Czaren 
  
*) Kaiser Nikolaus an König Friedrich Wilhelm, 3. Dec. 1828. 
*#) Maltzahn's Bericht, 9. Mai 1829.
	        
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