232 IV. 4. Landtage und Feste in Oberdeutschland.
Von Stunde zu Stunde erhitzten sich die Köpfe; eine Flut von
Zornreden ergoß sich über die Karlsbader „Ordonnanzen“. Die französische
Verbildung des Liberalismus bekundete sich auch in seiner verwelschten
Sprache: wie die Karlsbader Beschlüsse Ordonnanzen hießen, so nannte
man Welckers Antrag eine „Motion“ und die Verbesserungen „Amen—
dements“; nach Pariser Brauch donnerten die Redner wider die mark—
losen „Justemilianer“ und warnten die Regierung vor dem Schicksale des
„deplorablen Ministeriums“ Polignac. Der Geistliche Rat Herr gab
der Preßfreiheit sogar den kirchlichen Segen: er nannte sie „eine Anstalt
Gottes, die uns helfen wird zu alledem, was wir für Zeit, Tod und
Ewigkeit notwendig haben.“ Da die anonymen Zeitungsschreiber der
liberalen Doktrin wie Volkstribunen erschienen, so sollten sie auch nur
durch die freie Stimme des Volksgewissens, durch Geschworene gerichtet
werden. Selbst Duttlinger, der ruhigste unter den Führern der Oppo—
sition, ließ sich von der allgemeinen Aufregung anstecken; der deutsche
Rechtslehrer schämte sich nicht, die Schwurgerichte kurzerhand über das
Gesetz zu stellen und die schmähliche Parteilichkeit, welche die französischen
Geschworenen in allen politischen Prozessen betätigten, den rechtschaffenen
Germanen als ein Muster anzupreisen: „Geschworene beschützen die Preß-
freiheit gegen zu strenge und unnatürliche Gesetze durch ihr einfaches:
Nichtschuldig!“ Endlich mißbrauchte die Kammer gar ihr Steuerbewilli-
gungsrecht zu einer verfassungswidrigen Drohungs sie beschloß, das Budget
erst dann zu bewilligen, wenn die Regierung das Preßgesetz nebst einigen
anderen Gesetzentwürfen vorgelegt hätte.
Welch eine Lage für den wohlmeinenden Minister! Winter hielt die
Zensur für einen gemeinschädlichen Mißbrauch, aber wie durfte er sie
beseitigen, den Vorschriften der Bundesgesetze und der Landesverfassung
geradeswegs zuwider? Der Großherzog stand, wenngleich er den Kammern
gern ein Stück Weges entgegenkam, mit seinen Herzensneigungen durch-
aus auf seiten der Ostmächte. So oft die Russen, unter dem Wehge-
schrei der Liberalen einen Sieg erfochten, ließ er dem König von Preu-
ßen durch Otterstedt seinen Glückwunsch aussprechen.“') Nimmermehr
wollte er sich gegen den Deutschen Bund auflehnen. Mit Badens Zu-
stimmung hatte der Bundestag im vorigen Herbst den Regierungen die
strenge Handhabung der Zensur anempfohlen, jetzt schritt er zu neuen
Beschlüssen gleichen Sinnes; an die Milderung oder gar die Aufhebung
der Karlsbader Gesetze wagte keine der Bundesregierungen zu denken
in einem Augenblicke, da halb Deutschland durch Unruhen heimgesucht
wurde. Aus Darmstadt, Butzbach, Tübingen und anderen süddeutschen
Städten kamen Adressen, welche die Bundesversammlung baten, dem
Blutvergießen in Polen Einhalt zu tun, damit die Cholera nicht nach
*) Otterstedts Berichte, 18. März, 6. Juni 1831.