Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Katholikenemanzipation in England. 21 
an den Augenschein, sie sahen in dem Pariser Straßenkampfe nur die 
hochherzige, berechtigte Notwehr gegen den Verfassungsbruch, und da 
der Name: Verfassung zur Zeit überall einen unwiderstehlichen Zauber 
auf die Gemüter ausübte, das historische Recht der Dynastien aber von 
der herrschenden Doktrin sehr geringschätzig behandelt wurde, so bemerkte 
man die schwere Rechtsverletzung kaum und freute sich unbefangen des 
Heldentums der großen Woche. Durch die Herrschaft der französischen 
Bourgeoisie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel- 
klassen schon längst gegen die Überreste der feudalen Gesellschaftsordnung 
führten, eine mächtige Unterstützung; und so geschah es, daß eine Be- 
wegung, die in Frankreich selbst fast nur Unheil zeitigte, mittelbar in 
anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutschland, einen notwendigen, 
heilsamen Umschwung des politischen Lebens förderte. — 
Einen überraschend starken Widerhall fanden die Pariser Ereignisse 
in dem Lande, das vordem der ersten französischen Revolution am 
zähesten widerstanden hatte. Seit Canning sich von dem Bunde der Ost- 
mächte losgesagt, war auch Englands parlamentarisches Leben wieder in 
frischeren Zug gekommen: durch Huskisson wurden die harten Zollgesetze 
etwas gemildert, Canning selbst näherte sich kurz vor seinem Tode der 
erstarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete sich 
wieder jenen Reformplänen zu, welche einst Pitt in seinen hoffnungsvollen 
ersten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängnis der Kriegszeiten 
vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Festlands 
durch den aufgeklärten Absolutismus oder durch die Revolution neu ge- 
staltet wurden, hatte England seine beste Kraft verbraucht für die Begrün- 
dung seines Kolonialreichs und seine innere Gesetzgebung fast ganz ins 
Stocken geraten lassen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver- 
säumt war, und so übermächtig drängte sich das Bedürfnis der Neuerung 
auf, daß mehrere der kühnsten Reformen der nächsten Jahrzehnte durch 
streng konservative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erste, 
die Emanzipation der Katholiken, das Werk Wellingtons und Peels (1829). 
Selbst diese Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg, 
vielleicht der Abfall des schändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der 
uralte, soeben durch O'Connells flammende Reden wieder mächtig an- 
gefachte Haß der katholischen Kelten durch eine Tat der Gerechtigkeit be- 
schwichtigt werden mußte. 
Die maßvolle Reform holte nur nach, was Deutschland schon längst, 
die übrigen Staaten des Festlands seit den napoleonischen Tagen er- 
reicht hatten. Die Herrschaft der Aristokratie war aber mit den Vor- 
rechten der Staatskirche fest verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert 
der Streit mit der römischen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige 
zuerst geschwächt und der reichsständischen Bewegung des folgenden Jahr- 
hunderts die Bahn gebrochen hatte, so erschütterte jetzt der erste Stoß
	        
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