Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Heines Französische Zustände. 295 
alles freilich unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß zuvor Preußen 
zerschlagen und das linke Rheinufer an Frankreich abgetreten würde. Die 
„deplorablen“ Sechs Artikel erklärte er „feierlichst für null und nichtig“; 
das sittliche Pathos stand ihm aber so schlecht zu Gesicht, daß die Leser 
zweifeln mußten, ob hier der Schalksnarr oder der Volkstribun rede. 
Um so lebendiger erklangen seine rohen Schimpfreden wider den 
preußischen Esel, der im Befreiungskriege dem sterbenden Löwen den letzten 
Fußtritt gegeben habe. Das war unverkennbar die Sprache des Herzens. 
Heines alter Haß gegen Preußen hatte sich in der Pariser Luft bis zur 
blöden Wut gesteigert, denn er ahnte insgeheim, daß die begehrlichen 
Träume seiner Franzosen keinen ärgeren Feind zu fürchten hatten, als 
den preußischen Degen. Darum wurden alle die Männer, die in den 
letzten Jahren ihre preußische Staatsgesinnung offen bekundet hatten, mit 
Kot beworfen: Hegel, Arndt, Schleiermacher, Stägemann, auch „der 
arme Ranke, ein hübsches Talent, gemütlich wie Hammelfleisch mit Teltower 
Rübchen“; ihnen allesamt schleuderte Heine den Vorwurf der Feilheit 
zu, da er andere nur nach seinem eigenen Charakter zu beurteilen ver- 
mochte. Den langfingerigen Hohenzollern weissagte er mit der Seher- 
kraft des Dichters statt der ersehnten Krone Karls des Großen vielmehr 
das Schicksal Karls X. von Frankreich oder Karls von Braunschweig, 
und über einen deutsch-französischen Krieg urteilte er also: „Sollte sich 
das Entsetzliche begeben, und Frankreich, das Mutterland der Zivilisation 
und der Freiheit, ginge verloren durch Leichtsinn und Verrat, und die 
potsdämische Junkersprache schnarrte wieder durch die Straßen von Paris, 
und schmutzige Teutonenstiefel befleckten wieder den heiligen Boden der 
Boulevards, und das Palais Royal röche wieder nach Juchten — dann 
würden alle Flüche der Menschheit den Urheber solchen Verderbens treffen.“ 
Die Vorrede dieses Buchs, die sich durch ihren pöbelhaften Ton be- 
sonders auszeichnete, wurde in zahlreichen Sonderabdrücken in der Mainzer 
Gegend verbreitet, um die Rheinhessen gegen Preußen aufzuwiegeln, und fand 
auch viele bewundernde Leser; das internationale Judentum zog ja offenbar 
die letzten unabweisbaren Folgerungen aus jener Lehre Rottecks, welche 
die europäische Welt in die beiden Völker der Freisinnigen und der Knechtisch- 
gesinnten einteilte. Weltbürgerliche Träume, phantastische Hoffnungen auf 
eine allgemeine Revolution, auf die Verbrüderung aller freien Völker ver- 
fälschten und verdunkelten das Idealbild der nationalen Einheit. Auch die 
deutsche Demokratie wurde jetzt hineingezogen in das Netz revolutionärer 
Geheimbünde, das die romanischen Länder längst überspannte. Während 
der zwanziger Jahre hatten nur vereinzelte deutsche Radikale mit Lafayettes 
geheimnisvollem Comité directeur ihre Gedanken ausgetauscht; nun erst 
ward dieser Verkehr lebhafter, seit die polnischen Flüchtlinge ihm als natür- 
liche Vermittler dienen. General Bem in Dresden unterhielt einen geheimen 
Briefwechsel mit Cornelius, Siebenpfeiffer und anderen Radikalen des
	        
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