Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Die Reformbill. 25 
wie einst die beiden Pitt mit dem Ansehen des Feldherrn über eine ge— 
schlossene Phalanx befreundeter und verschwägerter Standesgenossen; er 
mußte die neue Gentry der Kaufherren und Fabrikanten, der Bank= und 
Eisenbahndirektoren, die sich jetzt neben den alten Grundadel drängte, 
durch Schmeichelei gewinnen, jedem wirtschaftlichen, kirchlichen, örtlichen 
Anspruch eine Befriedigung, jedem Wunsche eine Erfüllung verheißen, er 
mußte bald sich leiten lassen, bald unter dem Scheine der Nachgiebigkeit 
selber leiten. Hatte das Unterhaus früherhin in seinem Standesstolze sich 
der Nation oft entfremdet, so war nunmehr jedem Einfall, jeder Laune 
der öffentlichen Meinung Tür und Tor geöffnet; die namenlosen frei- 
willigen Staatsmänner der Zeitungen, zumal der Times, erlangten eine 
ungeheure Macht, und nicht selten geschah es schon, daß die Commoners, 
eingeschüchtert durch den Lärm der Presse, für Maßregeln, die sie miß- 
billigten, stimmten. Die vordem so träge Gesetzgebung arbeitete schnell, 
oft leichtfertig. Rasch nacheinander wurde die Zivilliste der Krone von 
den Staatsausgaben abgesondert, das Handelsmonopol der ostindischen 
Kompanie aufgehoben, die Sklaverei in den Kolonien beseitigt, die neue 
Londoner Universität neben den beiden alten aristokratischen Hochschulen 
als Korporation anerkannt, die verfallene städtische Verwaltung durch eine 
liberale, aber gedankenlose Städteordnung umgestaltet. Und so stark war 
der demokratische Zug der Zeit, daß selbst dies Haus, das noch immer 
fast ausschließlich aus Reichen und Hochgeborenen bestand, den miß- 
handelten Massen des Volkes seine Sorgfalt zuwenden mußte. Im Jahre 
1833 erschien das erste, noch sehr zahme Gesetz zur Regelung des Fabrik- 
wesens, auch für den sündlich verwahrlosten Volksunterricht ward ein 
kleiner Staatsbeitrag ausgeworfen. 
Der Lärm der Gassen verstummte, seit die Reformbill gesiegt hatte, 
doch die Arbeiter sammelten sich in der Stille um das neue Banner der 
Sozialreform; zugleich erhob sich der Ruf nach Befreiung des Handels. 
Die politischen Radikalen hingegen forderten Erweiterung des Stimmrechts, 
weil die Reformbill die Grenzen des Wahlrechts willkürlich gezogen hatte, 
und die geheime Abstimmung, das Ballot. Die altenglische Rechtsansicht, 
die in dem Wahlrechte stets eine ernste Bürgerpflicht, nicht eine Befugnis 
des souveränen Einzelmenschen gesehen hatte, geriet in Vergessenheit; die 
Todsünde demokratischer Zeiten, die Furcht vor persönlicher Verantwortung, 
schmückte sich mit dem Namen des Freisinns. Mit den demokratischen 
Ideen drangen aber auch die bureaukratischen Verwaltungsformen des 
Festlandes in den Inselstaat hinüber. Da die schwerfälligen Formen der 
alten Selbstverwaltung der Friedensrichter und Lordleutnants für den 
verwickelten Verkehr der modernen Gesellschaft nicht mehr ausreichten und 
der Geldadel der neuen Gentry die schweren Pflichten des persönlichen 
Dienstes für Staat und Gemeinde verabscheute, so wurde das vernach- 
lässigte Armenwesen des Landes einem großen, streng bureaukratisch ein-
	        
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