Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

388 IV. 6. Der Deutsche Zollverein. 
die tiefe Unwahrheit unserer Verfassung, daß sie den deutschen Staaten 
erlaubte, die heiligen Formen des Rechts zu mißbrauchen zur Entscheidung 
der Interessenkämpfe der Politik. Wie einst der Regensburger Reichstag 
die harten Machtfragen des Siebenjährigen Krieges zu lösen suchte durch 
einen Kriminalprozeß gegen den Reichsfriedensbrecher Friedrich, so dachten 
jetzt Hannover und seine mitteldeutschen Genossen, durch das Urteil eines 
Austrägalgerichts nicht sowohl den Vertragsbruch Kurhessens zu fühnen, 
als vielmehr die werdende Handelseinheit zu hemmen. 
Die kurhessische Regierung verteidigte ohne Geschick ihre unglückliche 
Sache. Ihr Gesandter erklärte zwar sehr richtig: der mitteldeutsche 
Handelsverein sei niemals wirklich zustande gekommen; auch habe Kur- 
hessen durch den Anschluß an Preußen offenbar im Sinne des Art. 19 
gehandelt, da jetzt freier Verkehr bestehe von der französischen bis zur 
russischen Grenze. Doch schwächte er selbst das Gewicht dieser Gründe 
durch sophistische Vorwände. Dann fiel er heftig gegen Hannover aus, 
er beteuerte: seine Regierung werde niemals ausländische Handelsinteressen 
im Herzen von Deutschland vertreten — und erregte also den Zorn der 
Mehrheit, die sich getroffen fühlte. Nachdrücklich nahm sich Nagler des 
Hessen an und wies nach, daß Austrägalgerichte nur über Rechtsfragen, 
nicht über streitige Interessen entscheiden könnten. Dieselbe Ansicht war 
schon vor zwölf Jahren, während des Köthener Zollkrieges, von Preußen 
verteidigt, und seitdem, weil sie den lebendigen Mächten der Geschichte 
entsprach, auf allen deutschen Kathedern von den Doktrinären des Bundes- 
rechts mit sittlicher Entrüstung gebrandmarkt worden. Außer den beiden 
Hessen stand nur Bayern tapfer auf Preußens Seite. Während Hannover 
der Bundestreue des k. k. Präsidialhofes seine Huldigungen darbrachte, ließ 
König Ludwig in Frankfurt erklären: die preußische Regierung verdiene den 
Dank des Bundes, weil sie durch ihre Zollverträge an der Erfüllung des 
Art. 19 ehrlich arbeite. 
Nagler wünschte die Entscheidung hinauszuschieben, damit unterdessen 
die Zollverträge in Berlin zustande kämen und die Klage von selbst 
beseitigt würde. Die österreichische Mehrheit aber stürmte vorwärts, ohne 
auch nur Instruktionen von daheim abzuwarten; denn die Bundesgesandten 
fühlten sich durch Preußens selbständiges Auftreten auch in ihrer Amtsehre 
gekränkt. Drei geschworene Feinde der preußischen Handelspolitik, Oster- 
reich, Dänemark und Mecklenburg wurden mit der Berichterstattung beauf- 
tragt. Auf ihren Vorschlag beschloß man sodann, daß Österreich, Däne- 
mark und Baden im Namen des Deutschen Bundes gütlich vermitteln 
sollten. Der Sühneversuch blieb vergeblich, und sofort, mit einer in 
Frankfurt unerhörten Eile, ward das Austrägalverfahren eingeleitet. Da 
Kurhessen sich weigerte, dem Kläger drei „unparteiische“ Bundesstaaten 
zur Auswahl vorzuschlagen, so ging das Vorschlagsrecht von Rechts wegen 
auf die Bundesversammlung über. Die Mehrheit ließ dem Kläger die
	        
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