414 IV. 7. Das Junge Deutschland.
der Einzelschönheiten versenkte, gelangte man Schritt für Schritt zur Er-
kenntnis des Ganzen.
In seinem Briefwechsel mit Schiller hatte Goethe stets die Einheit
des sich selbst erkllärenden Kunstwerks als höchste Aufgabe des Dichters
bezeichnet. Als Greis erhob er sich von diesem künstlerischen zu einem
allgemein menschlichen Ideale, das zu umfassend war, um sich noch
der strengen Kunstform einzufügen, und zu tiefsinnig, um je gemeinver-
ständlich zu werden. Wer diesem letzten Fluge des Goethischen Genius
zu folgen wagte und das Vermächtnis des Dichters als ein Werk eigener
Art, das so nicht wiederkehren konnte, unbefangen aufnahm, dem erschloß
sich eine Fülle reifer Lebensweisheit — denn zu dem Zitatenschatze unserer
Nation hat außer den Schriften der Bibel kein anderes Werk so viel bei-
gesteuert wie der Faust, der zweite Teil fast noch mehr als der erste —
und eine wunderbare Sprachgewalt, die wohl zuweilen in die Manier des
Alters absank, dann aber wieder im süßen Wohllaut der mannigfachsten
Versformen schwelgte, mit jugendlicher Kühnheit das nie Gesagte, kaum
Geahnte aussprach.
Der zweite Teil gab die Antwort auf die schweren Fragen des ersten.
Während der Faust des alten Puppenspiels im Taumel des Genusses unter-
ging, erhob ihn Goethe aus der engen Welt der persönlichen Leidenschaft
in höhere Regionen, in würdigere Verhältnisse und ließ ihn, gemäß dem
Worte „im Anfang war die Tat“, durch schöpferisches Handeln die Er-
lösung finden — ein Bild der inneren Befreiung und Läuterung, das sich
freilich mehr für den Roman als für das Drama eignete, aber in seiner
breiten epischen Anlage dem Dichter gestattete, die ganze Geschichte seines
Zeitalters symbolisch darzustellen. Aus dem Lärm und Glanz des Kaiser-
hofes steigt Faust in die Welt des Schönen empor und erlebt im Traume
die Befreiung der Helena, die Vermählung des antiken mit dem germa-
nischen Geiste, bis endlich der tätige Humanismus sich im gemeinnützigen
Wirken bewährt, der siegreiche Kampf des alten Faust mit dem Meere
zugleich zurückweist auf König Friedrichs friedliche westpreußische Erobe-
rungen und weit vorwärts deutet in die große Zukunft des arbeitsfrohen
neuen Deutschlands, dem das freie Meer den Geist befreien soll.
Im Weiterschreiten find er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick —
der höchste Gedanke der neuen deutschen Philosophie, die Erkenntnis der
nie auf Erden ganz verwirklichten, aber ewig sich verwirklichenden Idee, lag
in diesen Zeilen, und doch noch nicht das letzte Wort einer Dichtung, die
über das Diesseits hinausweisen mußte. Weder in der Prosa der Arbeit
noch in der nüchternen Mahnung „dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm“
konnte ein hochpoetisches und der altklugen Aufklärung entschieden feindliches
Werk ausklingen. Erst die allmächtige Liebe vollendet Fausts Erlösung,
und wie der Dichter dem Himmel durch die scharf umrissenen Gestalten