Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

414 IV. 7. Das Junge Deutschland. 
der Einzelschönheiten versenkte, gelangte man Schritt für Schritt zur Er- 
kenntnis des Ganzen. 
In seinem Briefwechsel mit Schiller hatte Goethe stets die Einheit 
des sich selbst erkllärenden Kunstwerks als höchste Aufgabe des Dichters 
bezeichnet. Als Greis erhob er sich von diesem künstlerischen zu einem 
allgemein menschlichen Ideale, das zu umfassend war, um sich noch 
der strengen Kunstform einzufügen, und zu tiefsinnig, um je gemeinver- 
ständlich zu werden. Wer diesem letzten Fluge des Goethischen Genius 
zu folgen wagte und das Vermächtnis des Dichters als ein Werk eigener 
Art, das so nicht wiederkehren konnte, unbefangen aufnahm, dem erschloß 
sich eine Fülle reifer Lebensweisheit — denn zu dem Zitatenschatze unserer 
Nation hat außer den Schriften der Bibel kein anderes Werk so viel bei- 
gesteuert wie der Faust, der zweite Teil fast noch mehr als der erste — 
und eine wunderbare Sprachgewalt, die wohl zuweilen in die Manier des 
Alters absank, dann aber wieder im süßen Wohllaut der mannigfachsten 
Versformen schwelgte, mit jugendlicher Kühnheit das nie Gesagte, kaum 
Geahnte aussprach. 
Der zweite Teil gab die Antwort auf die schweren Fragen des ersten. 
Während der Faust des alten Puppenspiels im Taumel des Genusses unter- 
ging, erhob ihn Goethe aus der engen Welt der persönlichen Leidenschaft 
in höhere Regionen, in würdigere Verhältnisse und ließ ihn, gemäß dem 
Worte „im Anfang war die Tat“, durch schöpferisches Handeln die Er- 
lösung finden — ein Bild der inneren Befreiung und Läuterung, das sich 
freilich mehr für den Roman als für das Drama eignete, aber in seiner 
breiten epischen Anlage dem Dichter gestattete, die ganze Geschichte seines 
Zeitalters symbolisch darzustellen. Aus dem Lärm und Glanz des Kaiser- 
hofes steigt Faust in die Welt des Schönen empor und erlebt im Traume 
die Befreiung der Helena, die Vermählung des antiken mit dem germa- 
nischen Geiste, bis endlich der tätige Humanismus sich im gemeinnützigen 
Wirken bewährt, der siegreiche Kampf des alten Faust mit dem Meere 
zugleich zurückweist auf König Friedrichs friedliche westpreußische Erobe- 
rungen und weit vorwärts deutet in die große Zukunft des arbeitsfrohen 
neuen Deutschlands, dem das freie Meer den Geist befreien soll. 
Im Weiterschreiten find er Qual und Glück, 
Er, unbefriedigt jeden Augenblick — 
der höchste Gedanke der neuen deutschen Philosophie, die Erkenntnis der 
nie auf Erden ganz verwirklichten, aber ewig sich verwirklichenden Idee, lag 
in diesen Zeilen, und doch noch nicht das letzte Wort einer Dichtung, die 
über das Diesseits hinausweisen mußte. Weder in der Prosa der Arbeit 
noch in der nüchternen Mahnung „dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm“ 
konnte ein hochpoetisches und der altklugen Aufklärung entschieden feindliches 
Werk ausklingen. Erst die allmächtige Liebe vollendet Fausts Erlösung, 
und wie der Dichter dem Himmel durch die scharf umrissenen Gestalten
	        
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