Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Bettina. 417 
Darum sind die Frauen dem Sänger des Ewig-Weiblichen immer treu 
geblieben. Wie sie einst dem verwilderten Geschlechte des Dreißigjährigen 
Krieges noch einen letzten Schatz guter Sitte, häuslicher Gemütlichkeit 
erhielten, so haben sie uns auch, als die Literatur wieder entartete, das An- 
denken unseres größten Dichters in der Stille bewahrt. Und nicht die von 
Goethe so tief verabscheuten gelehrten Frauen behüteten seinen Ruhm, son- 
dern die anspruchslosen, still tätigen, von denen niemand sprach. Wenn 
die schlichte deutsche Hausfrau nach den Sorgen des Haushalts sich am 
Anblick der Schönheit erquicken wollte, dann schlug sie aus den vierzig 
Bänden irgendeine Stelle auf, die ihrem Herzen wohl tat, und empfand 
die ewige Wahlverwandtschaft zwischen dem Genius und dem Weibe — 
denn was konnte Börne oder Heine einer edlen Frau bieten? Während 
die Dichtung sich von Goethe abwendete, blieb sein Geist in der bildenden 
Kunst und in der Wissenschaft lebendig; unter den neu auftretenden großen 
Gelehrten war keiner, der nicht von ihm gelernt hätte. Erst in weit späterer 
Zeit, als unser Volk Großes und Schweres geschaffen hatte, begannen die 
begabteren Dichter und alle wahrhaft erfahrenen Männer zu dem Liebling 
der Frauen zurückzukehren, und seitdem wächst beständig die stille Macht 
seines Genius. Der Tag seines höchsten Ruhmes ist noch nicht gekommen. 
Schillers Gedanken, wie groß und hehr sie auch waren, umfaßten doch 
nur eine begrenzte Zeit. Was er ahnte von Menschenrecht und Völker- 
freiheit, hat die Geschichte vor unseren Augen verwirklicht, und wir empfinden 
schon den nur bedingten Wert seiner Ideale. Nur die unerfahrene Jugend 
kann sich ihm noch ganz hingeben, mit Emil Devrient ist der letzte echte 
Marquis Posa aus unserem kürzer angebundenen Geschlechte geschieden. 
Goethes Gestalten gehören keiner Zeit; sie sind wahr, niemals wirklich, 
so wie er es von der Kunst verlangte. Sie veralten nicht, denn sie wollen 
erlebt sein; sie erwarmen nur vor den Augen des gottbegnadeten Künstlers, 
des liebevollen Weibes oder des festen Mannes, den die vollendete Bildung 
zur Einfalt der Natur zurückführt. 
Frauenhände errichteten dem Toten sein erstes schönes Denkmal. Drei 
Jahre nach dem Abscheiden des Dichters gab Bettina von Arnim Goethes 
Briefwechsel mit einem Kinde heraus, eine tief und groß empfundene, 
gedankenreiche Dichtung, die mit den historischen Tatsachen ebenso frei 
schaltete, wie Goethe selbst im Werther mit seinen Wetzlarer Erlebnissen, 
und gleichwohl mehr innere Wahrheit enthielt, von dem geheimnisvollen 
Leben des Genius mehr offenbarte als ganze Bändereihen der gelehrten 
Goetheforschung. Mit der herzlichen Wärme derbilderreichen rheinländischen 
Sprache erzählt das Buch, wie sich Goethes Wesen im Herzen eines leiden- 
schaftlichen Kindes widerspiegelt; majestätisch hebt sich die ruhige Milde 
des Dichters ab von der bacchantischen, zuweilen zudringlichen Begeisterung 
des Mädchens; und über diesem reichen Seelengemälde leuchtet der heitere 
Himmel unseres schönen Westens. Die kleinen Mädchen im Nonnenkloster 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 27
	        
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