Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

478 IV. 7. Das Junge Deutschland. 
rischen Forschung zuerst wieder zu saften anfing, und noch immer setzte er 
mit unerschöpflicher Triebkraft frische Zweige an. Soeben entstanden 
wieder zwei neue selbständige Wissenschaften, da Schnaase die Kunstge— 
schichte, Gervinus die deutsche Literaturgeschichte als ein Ganzes, in ihrer 
notwendigen Entwicklung, darzustellen unternahm. Inzwischen eroberte 
sich auch die klassische Philologie ein neues Gebiet durch die große Samm- 
lung der griechischen Inschriften, die seit 1824 unter Böckhs Leitung her- 
auskam; noch während der Geldnot der napoleonischen Kriege hatte König 
Friedrich Wilhelm die Mittel dazu bewilligt, denn für die Pflege des Alter- 
tums wußte er immer Rat zu schaffen. Nun erst erschien die hellenische 
Welt den Modernen greifbar, persönlich, unmittelbar lebendig in ihrem 
alltäglichen Treiben und Wirken, in der Mannigfaltigkeit ihrer Volks- 
sprachen, die sich aus der vornehmen Literatur nur ahnen, nicht erkennen 
ließ. Noch anschaulicher gestaltete sich das Bild des antiken Lebens, als 
Böckh in seinen Metrologischen Untersuchungen den orientalischen Stamm- 
baum des hellenischen Maß= und Münzwesens entdeckte und also den Zu- 
sammenhang abendländischer und morgenländischer Kultur, von dem einst 
Creuzer und die Symboliker nur geträumt hatten, durch genaue Einzel- 
forschung erwies; denn glücklich verband sich in Böckhs Geiste der strenge, 
nüchterne Zahlensinn mit einem freien Schönheitsgefühle, das selbst dem 
dithyrambischen Schwunge Pindars zu folgen vermochte. 
Diese kühnen Entdeckerfahrten der „Sach-Philologen“ betrachtete der 
alte Hellenist Gottfried Hermann mit wachsender Besorgnis. Ihm war, als 
ob ein reißender Strom hereinbräche in die friedliche Welt der Kritik und 
Grammatik; manches Stück fruchtbaren Erdreichswurdewohl angeschwemmt, 
das gab er zu, aber das ganze Land ward unwohnlich! Seine Schule fühlte 
sich in ihrem alten Besitzstande bedroht, sie bekämpfte diephilologischen Histo- 
riker mit ungerechter Gehässigkeit, während doch beide Richtungen einan- 
der nicht ausschlossen, sondern ergänzten, und verfiel allmählich, ganz 
wider des Meisters Absicht, in eine ideenlose Mikrologie. Der klassische 
Unterricht auf den Gymnasien begann zu kränkeln; manche Pädagogen 
aus der Leipziger Schule betrachteten die Homerischen Gedichte nur noch 
als ein Lehrmittel, an dem sie die grammatischen Regeln der Elision, der 
Krasis, des Jota subscriptum erweisen konnten. Seit dem Ende der drei- 
ßiger Jahre ließ sich bereits bemerken, wie die Freude an der klassischen 
Welt unter den Schülern abnahm. Also begannen die alten festen Grund- 
mauern des deutschen gelehrten Unterrichts schon leise zu wanken, zu der- 
selben Zeit, da die Naturwissenschaften fröhlich aufblühten und die Inter- 
essen der erstarkten Volkswirtschaft gebieterisch nach neuen Bildungsstoffen 
verlangten. — 
Als der Rheinländer Lejeune-Dirichlet im Jahre 1822 die Universität 
bezog, mußte er nach Paris gehen, denn in ganz Deutschland konnte nur 
ein Mathematiker seinen hohen Ansprüchen genügen, und dieser eine,
	        
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