Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Zerfall der Hegelschen Schule. 483 
zur vollen Wirkung gelangten, weil sie in die Formeln des Systems müh— 
sam eingespannt waren. 
Die meisten der anderen Diadochen zeichneten sich freilich nur durch 
grenzenlosen Übermut aus; ihrer Schulweisheit war zwischen Himmel 
und Erde nichts mehr rätselhaft, für jede Frage hielten sie einen Para- 
graphen bereit. Wie hart wurde Rosenkranz als unphilosophischer Kopf von 
den Hegelianern der strengen Observanz angelassen, als er unbefangen ein- 
gestand, der Philosoph könne die Zukunft nicht a priori konstruieren, son- 
dern müsse Ehrfurcht hegen vor dem Gott, der in dem Unvermuteten 
der Geschichte sich kundgebe. Über solche Empfindungen war der Ber- 
liner Michelet längst hinaus. Der nahm den Hegelschen Ternarius kurzer- 
hand in die Philosophie der Geschichte hinüber, schilderte zum ersten die 
unbekannte Urwelt, zum zweiten das geschichtliche Leben, zum dritten die 
Geschichte der Zukunft, und konnte also den reinen, durch keinerlei Sach- 
kenntnis beschwerten Begriff sich in der weiten Wüste des ersten und des 
dritten Abschnitts völlig frei ergehen lassen. Mit der gleichen Sicherheit 
bekämpfte er den Pöbel der empirischen Naturforscher, insbesondere Doves 
geistvolle Untersuchungen über die Farbenlehre; er fühlte sich auch keines- 
wegs beschämt, als Alexander Humboldt, diesmal den artigen Hofmann 
verleugnend, ihm rundweg antwortete: zu diesem Pöbel gehöre ich selbst. 
Trotz solcher lärmenden Prahlereien brachte die Schule Hegels kaum 
noch eine neue Idee zu Tage. Niemand empfand dies schmerzlicher als der 
ehrliche Rosenkranz, der schon fünf Jahre nach des Meisters Tode in sein 
Tagebuch schrieb: Über gegebene Philosophie zu reflektieren, verstehen wir 
Heutigen ganz leidlich, aber in eigenen Gedanken sind wir jetzt nur Dilet- 
tanten. Es war nicht anders, die deutsche Philosophie hatte in einer 
wunderbar stetigen Entwicklung Stufe für Stufe die kühnsten Gedanken, 
welche der sittliche Geist zu denken vermag, erreicht: als Kant seine Pflich- 
tenlehre begründete, als Fichte die Erhebung des Ich über die Sinnen- 
welt forderte, als Hegel in der Geschichte den Tempel des allgegenwärtigen 
Gottes fand. Aber mit Hegel hatte dieser verwegene Idealismus, der 
unserem Volke für alle Zukunft die Stelle neben den Hellenen sichert, 
auch sein letztes Wort gesprochen. Über ein System, das die Einheit von 
Sein und Denken gefunden zu haben behauptete, führte kein Weg mehr 
hinaus. Die Philosophie konnte nur noch fortschreiten, wenn sie zuvor 
von den stolzen Selbsttäuschungen der späteren Systeme wieder zu ihrem 
Ausgangspunkte, zu Kant, zurückkehrte; und dieser Schritt geschah, als der 
junge Trendelenburg (1839) in seinen Logischen Untersuchungen den 
Grundgedanken der Hegelschen Lehre, allerdings noch nicht vollständig, 
widerlegte. Er erwies, daß reines Denken schlechthin unmöglich ist, daß 
alles Denken sich nicht durch sich selbst, sondern durch die Anschauung 
fortentwickelt und mithin auch nicht das Wirkliche aus sich heraus erzeugen 
kann. Er sprach nur aus, was die hellen Köpfe der empirischen Wissen- 
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