Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

484 IV. 7. Das Junge Deutschland. 
schaft längst im stillen fühlten; doch es währte noch lange, bis sein 
Widerspruch von den Philosophen recht beachtet wurde. Auch das war 
ein Zeichen des beginnenden Umschwungs, daß Herbart in Göttingen sich 
in dieser Zeit erst eine Schule zu bilden begann, der strenge Denker, der 
schon vor Jahren in Königsberg die erste Anregung zur mathematischen 
Psychologie, zur naturwissenschaftlichen Beobachtung der Vorgänge der 
subjektiven Erfahrung gegeben hatte. 
Die Masse der Hegelianer hielt an dem alten Banner fest; sie wieder- 
holten unablässig die fertigen Formeln des Systems und suchten durch 
Übertreibung und Umschreibung, durch mannigfache sophistische Künste 
zu ersetzen, was ihnen an schöpferischer Kraft abging. Da der tiefsinnige 
Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen entgegengesetzte Auslegungen 
geradezu herausforderte, so traten jetzt die beiden Parteien, welche sich schon 
bei Hegels Lebzeiten geschieden hatten, scharf und schärfer auseinander. 
Die Junghegelianer — so nannte man die Radikalen — und die Hegelsche 
Rechte behaupteten beiderseits mit einem Eifer, der einer größeren Sache 
würdig war, daß sie allein den Geist Hegels begriffen hätten. Dieser 
gedankenlose Streit um den Namen des Meisters bewies nur zu deutlich, 
daß die Schule mit ihrer Weisheit am Ende war; und auch Michelet be- 
stätigte nur den Bankbruch des Systems, wenn er triumphierend ausrief: 
„eine Partei bewährt sich erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei 
Parteien zerfällt.“ Hegel selbst hatte die Liberalen allezeit leidenschaftlich 
bekämpft und diese konservative Gesinnung soeben noch durch seine schönen 
Aufsätze über die englische Reformbill betätigt. Er sah in der Juli-Revo- 
lution die Buße für die Sünden des Liberalismus; er lebte in dem Wahne, 
sein pantheistisches System entspreche der christlichen Dreieinigkeitslehre, und 
freute sich herzlich, als Göschel und Gabler seine Philosophie den Streng- 
gläubigen mundgerecht zu machen suchten; er äußerte noch kurz vor 
seinem Tode seinen Abscheu über die radikale Unduldsamkeit, welche jeden 
Verteidiger von Staat und Kirche als einen Denunzianten verdächtigte, 
und obwohl er einzelne Reformen verlangte, so war er doch stets darauf 
bedacht, zunächst das Vernünftige des Wirklichen, die innere Notwendig- 
keit der bestehenden Ordnung aufzuweisen. Die Männer der Hegelschen 
Rechten durften sich also mit Recht für die Erben des Meisters ansehen, 
obgleich dabei manche Selbsttäuschung mit unterlaufen mochte, und Michelet 
war vollständig im Irrtum, wenn er diese konservativen Hegelianer als 
„die Hinausgegangenen und nicht mehr Schüler sein Wollenden“ in Ver- 
ruf erklärte. 
Das Wirkliche als vernünftig hinzunehmen, widerstrebt aber dem 
ewig vorwärts drängenden menschlichen Geiste, zumal in Zeiten einer be- 
rechtigten Unzufriedenheit. Darum konnten in dem nun entbrennenden 
Streite die Junghegelianer auf den Beifall des Haufens zählen, wenn sie, 
dem Meister das Wort im Munde verdrehend, überall in den bestehen-
	        
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