Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

490 IV. 7. Das Junge Deutschland. 
Von dem Wesen der Religion hatte der scharfsinnige Theolog gar 
keine Ahnung. Gleich allen Hegelianern sah er in ihr nur ein un— 
fertiges Denken, obwohl die Geschichte der Jahrtausende bewies, daß die 
empfindenden Frauen allezeit religiöser waren als die denkenden Männer. 
So gelangte er unmerklich zu der Meinung jener buchstabengläubigen 
Orthodoxen des siebzehnten Jahrhunderts, welche die Religion allein im 
Fürwahrhalten einiger dogmatischen Lehrsätze suchten. Er wähnte das 
Christentum selbst überwunden zu haben, weil er nachgewiesen hatte, daß 
einige der evangelischen Erzählungen mythisch sind. Welch ein tragischer 
Widerspruch in dem Leben dieses reichbegabten Mannes! Im Kampfe, im 
berechtigten Kampfe wider den theologischen Zunftzwang der Tübinger 
Stiftler-Gelehrsamkeit hatte er sich errungen, was er die Freiheit seines 
Geistes nannte; und doch war sein Buch selbst nur ein echtes Kind jener 
verhockten Stubengelahrtheit, welche nicht fassen konnte, daß alle theo- 
logische Kritik nichtig ist neben den praktischen Pflichten des Seelsorgers, 
der die Mühseligen und Beladenen trösten soll aus der Fülle der Ver- 
heißung, daß vor der Majestät des lebendigen Gottes der spitzfindige Ge- 
lehrte ebenso bettelarm dasteht wie der einfältige Bauersmann. 
Aber dem tapferen Streiter blieb das Verdienst, daß er in eine offene 
Wunde der deutschen Theologie den Finger gelegt hatte. Darum erregte 
sein Buch eine Entrüstung, wie kaum jemals ein gelehrtes Werk. Wenige 
Wochen nach dem Erscheinen des ersten Bandes wurde er schon vom Tü- 
binger Stifte entfernt und auf eine Lehrerstelle versetzt. Dann sendete 
Eschenmayer, dessen naturphilosophische Träumereien vor Jahren den jungen 
Strauß selbst bezaubert hatten, seine Streitschrift wider „den Ischariotis- 
mus unserer Tage“ hinaus, ein fanatisches Libell, das der wissenschaft- 
lichen Theologie schlechthin jede Berechtigung absprach. Auch Paulus er- 
hob sich aus dem Großvaterstuhle des Rationalismus, um den Ketzer zu 
bekämpfen, der so gar nicht einsehen wollte, daß die Juden zu Christi 
Zeiten die unangenehme Gewohnheit gehabt hätten, ihre Angehörigen leben- 
dig zu begraben, und mithin die Totenerweckungen des Neuen Testaments 
auf ganz natürliche Weise zu erklären seien; er sprach indes würdiger als der 
alte Tübinger Supranaturalist Steudel. Die württembergischen Pietisten, 
die in Calw und Kornthal ihre Betstunden hielten, die stillen „Stunden- 
leute“, gerieten in Bewegung, und in ihrem Namen stritt Straußens 
Studiengenosse Wilhelm Hoffmann gegen den verlorenen Freund. Hengsten- 
bergs Berliner Kirchenzeitung tobte, und die Minister erwogen bereits, ob 
man nicht das gefährliche Buch in Preußen verbieten solle; da erklärte Joh. 
Neander in einem trefflichen Gutachten, nach evangelischem Brauche dürften 
Gründe nur durch Gründe bekämpft werden. Das Leben Jesu, das der 
fromme Mann bald nachher dem Buche des Schwaben entgegenstellte, war 
jedoch leider mehr ein Werk der Liebe als des kritischen Scharfsinns. Aller 
dieser Gegner rwehrte sich Strauß in einer Reihe schlagfertiger Streitschriften.
	        
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