Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Die polnische Legende. 537 
Manne, an den er sich anklammern kann. Da Nikolaus die beiden 
anderen Monarchen durch Hochmut und Willenskraft überragte, so dich— 
teten ihm die erbitterten Liberalen jetzt schon eine Macht an, die er in 
Wahrheit erst in den vierziger Jahren, durch die Willensschwäche Fried- 
rich Wilhelms IV., und auch dann niemals vollständig erlangt hat. Die 
ersten Urheber dieser, wie so vieler anderen politischen Mythen der Zeit 
waren die polnischen Flüchtlinge. Bezaubert von der sarmatischen Bered- 
samkeit vermochten die deutschen Liberalen gar nicht mehr zu begreifen, 
daß die gemeinsame polnische Politik der Ostmächte sich aus den früheren 
Ereignissen mit unerbittlicher Notwendigkeit ergab; überall witterten sie 
russische Ränke und russisches Gold. Mit Jubel begrüßte man Platens 
Gedicht auf „den reisenden Rubel“: 
Seit außer Kurs die Tugend ist, 
Kursiert der Rubel sehr! 
Als der Dichter diese Zeilen schrieb, 1833, besaß Rußland gar keine Macht 
über Deutschland; eben damals, nach der Münchengrätzer Zusammen- 
kunft, machte Preußen die politischen Pläne des Petersburger Kabinetts zu 
Schanden. Und wenn er dann zornig ausrief: 
Erst gab's nur einen Kotzebue, 
Jetzt gibt's ein ganzes Schock — 
so ließ sich wohl fragen, wer denn diese neuen Kotzebues sein sollten? 
Doch sicherlich nicht der ehrliche Stägemann oder die anderen preußischen 
Beamten, die in der Staatszeitung dem verblendeten Liberalismus Ver- 
nunft zu predigen suchten? Aber solche Fragen warf man gar nicht auf; 
man schwärmte für den Kampf deutscher Freiheit gegen moskowitische Knecht- 
schaft, und dachte sich dabei nicht viel mehr als der Dichter selbst, der 
Deutschlands „künftigen“ Helden mit dem Heilruf begrüßte: 
Dir, Siegender, möge dann 
Mongolenblut aus jeder Locke 
Uber den faltigen Mantel triefen! 
Dieser phantastische Russenhaß konnte nur die Schwärmer betören, 
welcheaufdie Schlagworte des polnisch-französischen Radikalismus schwuren. 
Weit verderblicher wirkte eine andere politische Legende, die von England 
ausging; sie trat in staatsmännischem Gewande auf und verführte gerade 
die gemäßigten, die denkenden Liberalen. Der junge englische Diplomat 
David Urquhart hatte sich einst für die Hellenen begeistert, dann aber im 
Verkehre mit vornehmen Türken eine überaus hoffnungsreiche Ansicht von 
der Lebenskraft des osmanischen Reiches gewonnen; denn die Sünden der 
Herren sind andere als die Sünden der Knechte, unter den würdevollen, 
sauberen, ehrlichen Türken befand er sich wohler als unter den gierigen 
Raubvogelgesichtern der mißhandelten Rajahvölker. Also kehrte er zu- 
rück zu der altenglischen Ansicht, daß die Herrschaft des Halbmonds über