Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Aufhebung des Staatsgrundgesetzes. 657 
streit und war viel zu klug, um einen mutwilligen Rechtsbruch zu be- 
günstigen. 
Die Zurückhaltung der Höfe ließ sich wohl begreifen; sie wußten nicht, 
wo der Welfe hinaus wollte. Auch in Hannover blieb alles still. Man 
fühlte sich gedrückt und verstimmt, aber selbst die Abgeordneten taten 
nichts. Als die Georgia Augusta im September das Jubelfest ihres 
hundertjährigen Bestehens feierte, und fast alle namhaften Männer des 
Landes in Göttingen zusammentrafen, bot sich fast von selbst die Gelegen- 
heit, gemeinsame Schritte zur Abwehr des drohenden Staatsstreichs zu 
besprechen. Auch dies ward versäumt. Man schmauste über Gräbern, 
sagte Dahlmann bitter. Das Fest verlief mit der gewohnten akademischen 
Pracht, Alexander Humboldt empfing die Huldigungen aller Fakultäten, 
und die Philologen verabredeten sich nach dem Vorbilde der Naturforscher, 
regelmäßig wiederkehrende Wanderversammlungen zu halten. Auch der 
König erschien auf einen Tag und bemühte sich wenig, der Professoren= 
welt seine Verachtung zu verbergen. Als die Bürgerschaft vor der neuen 
Aula das Standbild seines verstorbenen Bruders einweihte, drehte er in 
dem Augenblicke, da die Hülle fiel, mit scharfer Wendung dem Denkmal 
den Rücken zu?'); die philosophische Fakultät aber erhielt einen schnöden 
Verweis, weil sie Stüve zum Ehren-Doktor ernannt hatte. 
Mit seinen politischen Plänen war Ernst August noch immer nicht 
im reinen. Je länger er zögerte, um so gewisser ward es, daß ihm der 
gegenwärtige Landtag keine wichtige Verfassungsänderung mehr bewilligen 
konnte. Da bot sich ein Helfer. Weil die Gutachten des Ministeriums 
und der Kommission nicht nach Wunsch ausgefallen waren, so wurde der 
Kanzleidirektor Leist mit einer dritten Prüfung der Rechtsfrage beauftragt, 
ein gelehrter alter Reichsjurist, der einst, wie Schele, in westfälische Dienste 
gegangen und auf höheren Befehl zu jeder Rechtsverdrehung gern bereit 
war. Der bewies jetzt, das Staatsgrundgesetz sei ungültig, weil die Zu- 
stimmung der Agnaten fehle und König Wilhelm IV. nachträglich noch 
einige Paragraphen einseitig geändert habe.““) Nun endlich begann dem 
Welfen einzuleuchten, daß Scheles ursprüngliche Absicht doch das Rechte 
getroffen hätte. Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das 
Staatsgrundgesetz aufgehoben, die alte Verfassung von 1819 wieder ein- 
geführt, das Beamtentum — oder, wie es fortan hieß: die königlichen 
Diener — des Verfassungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk 
bestechen wollte, den getreuen Untertanen die Summe von 100,000 Tlr. 
jährlich an den direkten Steuern erlassen. 
So maßte sich der welfische König das Recht an, seine Beamten eines 
nicht ihm geleisteten Eides zu entbinden — ein Recht, das in der römischen 
  
*) Nach der Erzählung eines Augenzeugen. 
*) S. o. IV. 163. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 12
	        
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