86 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
es auch nicht zur Kräftigung, daß die konstitutionellen Doktrinäre sich
gewöhnten, zu dem vaterlandlosen Leopold wie zu einem Fürstenideal
enporzuschauen.
In allen seinen Wandlungen stand dem Führer der Koburger zuerst
als vertrauter Arzt, dann als diplomatischer Ratgeber sein Landsmann
C. F. von Stockmar zur Seite, ein hochbegabter Staatsmann, klar, be-
stimmt, weit vorausschauend, kühner und gedankenreicher als Leopold
selber. Während der Londoner Konferenzen führte er die entscheidenden
Verhandlungen mit den Belgiern, und immer gab er den Ausschlag,
wenn sein bedenklicher königlicher Freund einen raschen Entschluß nicht
finden konnte. Seine politischen Ansichten hatte er sich in langjährigem
Verkehre mit den Whigs und den englischen Radikalen gebildet; reich
und unabhängig, fragte er nicht nach Gunst und sparte, sobald es not
tat, die freimütigen Vorwürfe nicht. Sein Ehrgeiz war in der Stille
zu wirken; der schmächtige Mann mit den schönen, klugen, dunklen Augen
begnügte sich gern mit einer Stelle hinter den Kulissen und hörte mit
dem überlegenen Lächeln des Eingeweihten zu, wenn andere sich seiner
eigenen Gedanken rühmten. In scharfem Gegensatze zu seinem weltbürger-
lichen Herrn blieb er in der Fremde stets ein deutscher Patriot, warm
begeistert für die Idee der nationalen Einheit; die Erbärmlichkeit unserer
Kleinstaaterei verachtete er gründlich, kein Mittel schien ihm zu scharf,
um dies Elend zu beendigen. Seine Freunde daheim übertraf er alle
durch eine umfassende diplomatische Sachkenntnis, die sich die deutschen
Liberalen in ihren engen Verhältnissen nicht erwerben konnten, und durch
die Nüchternheit seines politischen Urteils. Die Überschätzung der parla-
mentarischen Mehrheitsherrschaft war wohl der einzige doktrinäre Zug in
diesem durchaus praktischen Geiste. Aber welch ein tragischer Widerspruch
blieb es doch, daß ein solcher Mann im Dienste des Vaterlandes keinen
Platz finden konnte und seine reichen Kräfte verschwendete für die Geschäfte
des großen internationalen Heiratsbureaus in Brüssel, Geschäfte, die
mit dem Wohle Deutschlands wenig oder nichts gemein hatten!
Derweil der belgische Staat sich zu befestigen begann, nahm die Re-
volution im Osten ein jammervolles Ende. Beim Ausbruch des polni-
schen Krieges hatte Nikolaus beschlossen, nach der erhofften raschen Unter-
werfung die polnische Verfassung aufzuheben, „die großen Schuldigen,
Czartoryski, Lelewel und andere ähnliche Schufte (faquins)“ furchtbar zu
bestrafen, die Warschauer Studenten „und die andere Canaille“ zur
Zwangsarbeit zu verurteilen. Als die Polen zu unterhandeln ver-
suchten und ihm die Wiedereinsetzung der Romanows anboten, schrieb er
höhnisch: „ich bin sehr gerührt und dankbar!“ Wie anders war nun alles
gekommen. Nach dem unbenutzten Siege von Grochow befand sich Die-
bitsch in peinlicher Bedrängnis. In seinem schlecht verpflegten Heere
wütete die Cholera, derweil die Zuversicht der Polen durch Skrzyneckis