Stockmar. Diebitschs Tod. 87
unerwartete Erfolge und den begeisterten Beifall Europas gesteigert wurde.
Die Ungunst des Wetters erschwerte jede Bewegung in dem unwegsamen
Lande; und kaum minder belästigte den Feldherrn die pedantische Klein—
meisterei des Selbstherrschers, der ihn aus seinem Kabinett heraus bald
mit herrischen Befehlen, bald mit freundschaftlichen Vorwürfen über—
schüttete, ihm die Schonung der glänzenden Garderegimenter, die richtige
Verwendung seiner neuerfundenen Dragoner, einer wenig brauchbaren
„Infanterie zu Pferd“, anempfahl.“) Im Mai brach Skrzynecki wieder
aus Praga hervor, um sich über den Bug nordwärts gegen die russischen
Garden zu wenden. Diebitsch eilte ihm nach und schlug ihn unter
schweren Verlusten bei Ostrolenka (26. Mai). Doch abermals wagte der
Sieger nicht seinen Erfolg auszubeuten; abermals gestattete er dem zer—
rütteten polnischen Heere hinter den schützenden Wällen von Praga zu
verschwinden und sich dort von neuem zu verstärken. Da riß dem Zaren
die Geduld, er beschloß den unglücklichen Heerführer abzurufen.
Der schleppende Gang des Feldzuges hatte das Ansehen der russischen
Waffen überall in der Welt erschüttert, und da fast alle höheren Be—
fehlshaber in diesem erfolglosen Kriege gleich dem Feldherrn selber Deutsche
waren, so brach der alte Haß der Moskowiter gegen die Deutschen wieder
übermächtig aus. Die Nation forderte stürmisch die Züchtigung der ver—
achteten Polen, aber nur ein Russe durfte diesen nationalen Krieg führen.)
Die polnische Revolution ward ein Wendepunkt der russischen Politik.
Die Begünstigung des alten Moskowitertums, die sich schon in Nikolaus'
ersten Jahren zuweilen gezeigt hatte, blieb fortan der leitende Grundsatz
seiner Regierung. In schneidendem Gegensatze zu seinem Bruder Alexander,
dem Gönner der Deutschen und der Polen, wies er alles westländische
Wesen feindselig ab. So stellte sich die alte Regel wieder her, die sich
aus der nur halb gelungenen Verschmelzung abendländischer und morgen-
ländischer Gesittung notwendig ergab und darum in der Geschichte Ruß-
lands mit der Stetigkeit eines Naturgesetzes wiederkehrte: die Regel, daß
jeder Zar gegenüber der europäischen Kultur genau das Gegenteil dessen
tat, was sein Vorgänger für geboten hielt.
Noch bevor ihn die Nachricht seiner Abberufung ereilte, starb Die-
bitsch plötzlich an der Cholera; die Lorbeeren seiner Türkenkämpfe waren
verwelkt. Mittlerweile bereitete General Toll, der kühnste und einsich-
tigste Kopf des Hauptquartiers, schon die entscheidende Bewegung vor:
das russische Heer sollte in einem weiten Flankenmarsche nach Nordwesten
bis dicht an die preußische Grenze zurückgehen, dort den so oft geplanten
Übergang über die Weichsel vollführen, um dann auf dem linken Ufer
*) Nikolaus an Diebitsch, 4. 21. Febr., 4. 10. März a. St. 1831, abgedruckt
nebst anderen Briefen des Zaren an den Feldmarschall in der Russkaja starina,
Jahrgang 1884 u. 85.
**) Schölers Bericht, 3. Juni 1831.