Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

246 V. 3. Enttäuschung und Verwirrung. 
der doch, wenn es galt für seine frommen Stiftungen zu bitten, eine hin— 
reißende Beredsamkeit entfalten konnte. Wie sein alter Gönner, der Frei— 
herr vom Stein, empfand er es längst als ein Gebrechen, daß der Prote— 
stantismus, von Männern in einem männischen Jahrhundert geschaffen, 
dem starken religiösen Gefühle der Frauen gar keine kirchliche Wirksam— 
keit zu bieten wußte; in frohem Gottvertrauen schritt er ans Werk, und 
aus dem bescheidenen Kaiserswerther Mutterhause ging allmählich die 
große evangelische Schwesterschaft der Diakonissen hervor, die im Laufe 
der Jahre Tausende frommer Frauen zur Armen= und Krankenpflege, zu 
allen Werken christlicher Barmherzigkeit heranrief. Noch höhere Aufgaben 
stellte sich Wichern, der Stifter des Rauhen Hauses. Er sah, wie kläglich 
die Massen in Groll und Elend verkamen, und wie gleichmütig die höheren 
Stände, betört durch die Lehre von der angeblichen Unwandelbarkeit der 
volkswirtschaftlichen Naturgesetze, ihre Pflichten gegen die leidenden Brüder 
verabsäumten. Wichtiger noch als die Heidenmission erschien ihm die Aufgabe 
der „inneren Mission“ — der Name begann seit 1842 aufzukommen — 
die im Vaterlande selbst den sittlichen und wirtschaftlichen Notstand der 
niederen Klassen lindern sollte. Jedes warme Christenherz, ohne Unter- 
schied der Parteien, wollte er für dies Liebeswerk gewinnen, und seine 
Schuld war es nicht, daß seine Pläne nur bei den Orthodogen, zunächst 
in Mecklenburg Anklang fanden. Die Berliner Armenpflege versuchte 
Otto v. Gerlach in christlichem Sinne neu zu gestalten, neben ihm der 
greise Baron Kottwitz, der sich glücklich pries noch die Anfänge dieser 
gottseligen Regierung zu erleben. Für die Reform des arg verwahrlosten 
Gefängniswesens wirkte seit Jahren schon Dr. Julius, ein warmher- 
ziger Hamburger Jude, der sich aus tiefer Überzeugung zum strengen 
Katholizismus bekehrt hatte; er wurde der Schöpfer der Gefängniskunde in 
Deutschland und verlangte vornehmlich die Einführung der in der libe- 
ralen Welt noch verrufenen Einzelhaft. 
Allen diesen frommen Werken folgte der König mit inniger Teilnahme; 
ihm war dabei zu Mute, „wie wenn der Saft in die Bäume tritt“. Schon 
als Kronprinz hatte er sich über den Zustand der Zuchthäuser und Gefäng- 
nisse Europas eifrig unterrichtet;?) jetzt berief er Julius als Hilfsarbeiter in 
sein Kabinett, und versuchte, leider vergeblich, den edlen Deutschamerikaner 
Franz Lieber, einen der beredtesten Verteidiger der Einzelhaft für die Leitung 
derpreußischen Strafanstalten zu gewinnen.“) Auch seine englische Freundin 
Elisabeth Fry, die fromme Trösterin der Gefangenen, wurde zum Besuch ge- 
laden; stundenlang saß sie in ihrer hohen weißen Quäkermütze predigend 
und lehrend zwischen der Königin und der Prinzessin Marianne; zu ihren 
öffentlichen Vorträgen drängte sich die vornehme Gesellschaft, die Zeitungen 
  
*) Bunsen an Kronprinz Friedrich Wilhelm, 1. April 1840. 
**“) König Friedrich Wilhelm an Thile, 8. Dez. 1844.
	        
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