354 V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
einer langen Denkschrift, die des Königs vollen Beifall fand, führte Thile
aus: das Bekenntnis bilde den einzigen Boden für das staatsrechtliche
Dasein der evangelischen Kirche; träte selbst die Hälfte ihrer Mitglieder
aus, so würde die andere Hälfte um so fester zusammenhalten, wie das
Beispiel der Altlutheraner bewiese. Nicht wir, so schloß er, wollen richten,
wer noch evangelisch sei, sondern nur denen die Tür öffnen, die sich
selbst für abgefallen bekennen.“)
Von solchem Bekenntnis waren die Lichtfreunde jedoch weit entfernt;
sie behaupteten vielmehr gute evangelische Christen zu sein. Freiheit in
der Kirche, nicht außer der Kirche! — so lautete ihr Feldgeschrei. Die
katholische Kirche begnügte sich neuerdings, gleich der weltlichen Staats-
gewalt, meist mit dem äußerlichen Gehorsam, mit der Befolgung ihrer
Satzungen und Formen, und erwies durch diese mehr politische als kirch-
liche Behandlung des religiösen Lebens doch den Zweifelnden und Schwan-
kenden einige Schonung. Der Protestantismus hingegen, der den Glauben
so viel tiefsinniger und innerlicher auffaßte, mußte eben deshalb sofort zu
den Machtmitteln des Gewissensdrucks greifen, wenn er versuchte, die
Treuen von den Ungetreuen zu scheiden. Also geschah es, daß dieser König,
der die Gewissensfreiheit so hoch hielt, gehässige Lehrprozesse gegen die
Lichtfreunde einleiten ließ, damit sie selbst ihren Unglauben eingestünden
und dann der Freiheit des Unglaubens preisgegeben würden. Nach dem
bestehenden Kirchenrechte war er dazu unzweifelhaft befugt. Er verkannte
jedoch, daß solche Religionsgespräche niemals ein überzeugendes Ergebnis
haben, weil die Gemütswahrheiten des Glaubens nur erlebt, nicht be-
wiesen werden können; er verkannte, daß nicht jedem Menschen der gleiche
Drang und die gleiche Kraft des Glaubens verliehen ist; und wie er alles
persönlich nahm, so betrachtete er die Geistlichen, die ihm „der Apostasie
vom christlichen Glauben“ schuldig schienen, kurzweg als Eidvergessene.)
So mußten denn der ehrwürdige strenglutherische Superintendent Heubner,
Twesten und andere Theologen in Wittenberg, ganz nach der Weise des
siebzehnten Jahrhunderts, ein Kolloquium mit Wislicenus abhalten; auch
Rupp in Königsberg und Archidiakonus Krause in Breslau wurden solchen
Verhören unterworfen. Alle Angeschuldigten behaupteten, daß sie durch
ihre Auslegung der Dogmen nur das gute Recht evangelischer Freiheit
betätigt hätten.)
Mittlerweile tobte der Kampf zwischen Hengstenberg und den Licht-
freunden weiter, und zum Kummer des Königs erklärte sich jetzt auch eine
unbestreitbar kirchlich gesinnte Mittelpartei wider die Verfolgungssucht der
Orthodoxen. Bischof Dräseke, der soeben erst durch die sächsischen Rationa-
*) Thiles Denkschrift über Lichtfreunde, 16. Aug. 1845.
*) König Friedrich Wilhelm an Thile, 29. Nov. 1845.
*“*) Snethlage und Twesten, Bericht über das Wittenberger Kolloquium, 16. Mai
1845.