Die Stadträte gegen die Orthodoxen. 355
listen so schwer verunglimpfte, und der allezeit untertänige greise Bischof
Eylert unterzeichneten (Aug. 1845) eine von den Schülern Schleiermachers
in Berlin entworfene Adresse an den Monarchen, welche zwar die Ver-
irrungen der Lichtfreunde beklagte, aber auch vor willkürlichen Aus-
schließungen dringend warnte: nur unter lebendiger Teilnahme der Ge-
meinden solle die Kirche sich selbst gestalten und ihre Lehrformeln!e in christ-
lichem Sinne frei entwickeln. Weit gröber lautete eine bald nachher vom
Berliner Magistrat beschlossene Adresse. Alle diese Jahre hindurch hatte die
Stadt Nicolais lediglich durch Witze und Klatschereien in die Kämpfe des
öffentlichen Lebens eingegriffen; erst als sie die Grundsätze der Aufklärung
bedroht glaubte, geriet sie in Aufregung. Mit begreiflicher Verwunde-
rung berichteten die ausländischen Zeitungen, wie dieser Magistrat, der
doch nur als Patron an kirchlichen Dingen teilnahm und die Pflichten
des Kirchenpatronats immer sehr leicht genommen hatte, jetzt plötzlich in die
theologische Polemik hineingeriet und die Zeitungen Hengstenbergs wegen
ihres „katholischen Prinzips“ vor dem Monarchen feierlich verklagte.
Einen solchen theologisierenden Stadtrat hatte die Welt seit den Zeiten der
Puritaner nicht mehr gesehen, und wahrlich kein Hauch von dem Glaubens-
ernste jener Gottseligen wehte im Berliner Rathause; es war allein die
werdende politische Opposition, die sich hinter der theologischen Hülle
verbarg. Als der König auf einer Reise durch Pommern von dieser
„frechen Adresse“ erfuhr, geriet er in heftigen Zorn und bestand darauf,
ihre Urheber müßten sie ihm persönlich überreichen.) Nach seiner Heim-
kehr, am 2. Okt. fuhren die Stadtbehörden Berlins in einem langen Zuge
von Staatswagen zum Schlosse, wo ihnen ein sehr ungnädiger Empfang
wurde. Der König verwies ihnen, daß ihre Eingabe nur die Treuen tadle,
nicht auch die Eidbrecher, und schloß mit der Versicherung, er würde den
Tag segnen, wo er „das Kirchenregiment in die rechten Hände zurückgeben“
könne. Wen er unter diesen rechten Händen meinte, das blieb den Ber-
linern vorderhand noch dunkel. Ebenso streng wurden zwei Adressen der
Städte Breslau und Königsberg abgefertigt, und tief besorgt meinte Bodel-
schwingh: „Lieber wäre es mir freilich, Se. Majestät überließe in ähn-
lichen Fällen den Ministern die Bescheidung.““)
Indem der König so ganz persönlich in die kirchlichen Parteikämpfe
eingriff, setzte er sich den ärgsten Verdächtigungen aus, da der beschränkte
Hochmut der modernen Aufklärung an die Ehrlichkeit der Gegner niemals
glauben will. Er ahnte das selbst und sagte in diesen Tagen bitter — so
erzählte man überall und wohl mit gutem Grunde: — bei der Huldigung
wollten mich die Berliner vor Liebe aufessen, heute tut es ihnen leid, daß
sie es nicht getan haben. Die Sache der Lichtfreunde erschien jetzt schon
*) König Friedrich Wilhelm an Bodelschwingh, 10. 11. 13. Sept. 1845.
**) Bodelschwingh an Thile, 29. Jan. 1846.
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