Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

374 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
die sich in absteigender Linie entwickeln, der unmäßige Beifall war Gift 
für diese kleine eitle Seele. Die Radikalen hatten ihm nicht verargt, daß 
er, der Deserteur, in prahlenden Liedern nach „eines Streithengsts Bü- 
geln“ verlangte; aber seine herzbrechende Klage „mein ganzer Reichtum 
ist mein Lied“ vergaßen sie nicht, und als er jetzt, durch eine Heirat 
reich geworden, in ein träges, nichtsnutziges Wohlleben versank, da wen- 
deten sie sich doch erschrocken ab, denn der ekelhafte Anblick prassender 
Demagogen war den Deutschen noch neu. 
Von dichterischer Kraft blieb ihm bald nichts mehr als die Form- 
gewandtheit. Seine radikale Gesinnung erhitzte sich bis zur lästernden 
Frechheit, weil er zu faul, zu selbstisch war, um von der Zeit zu lernen. 
Schon vier Jahre vor der Revolution sang er die wüsten Verse: 
Keine Steuern, keine Zölle, 
Des Gedankens Freiverkehr! 
Keinen Teufel in der Hölle, 
Keinen Gott im Himmel mehr! 
Nieder mit dem Blutpokale, 
Drin der Kirche Wahnwitz kreist! 
Ein Kolumb zerbricht die Schale, 
Wenn er eine Welt beweist. 
Und während des polnischen Aufstandes von 1846 schrieb er wütend: 
Ich rufe den Empörern Sieg 
Und jede Schmach auf deutsche Fahnen! 
Als ihm dann endlich, nach kläglichen Heldentaten im Revolutionsjahre, 
ein gütiges Geschick beschied, die Tage deutschen Ruhmes zu erleben, da ist 
er noch lange keifend, schimpfend, höhnend hinter dem Siegeswagen des 
neuen deutschen Reiches dahergetaumelt, ein Trunkenbold der Phrase, ver- 
achtet von den Einsichtigen, vergessen von der Mehrheit der Nation. Neben 
Herweghs neuen Gedichten erschienen die losen Spottverse Hoffmanns 
v. Fallersleben, mit aller ihrer burschikosen Torheit, doch ehrlich und 
harmlos; und wie konnte man denn mit ihm rechten, der in guten Stunden 
seinem Volke so tief ins treue Herz blickte, der, selber ohne Haus und 
Herd, in seinen Kinderliedern das holde Dämmerglück der deutschen 
Kinderwelt so warm, so wahr, so einfältig, ohne einen einzigen falschen 
Ton moderner Niedlichkeit, besang? 
Aus feinerem Tone geformt war der dritte der beliebten Zeitpoeten, 
der kosmopolitische Nachtwächter Franz Dingelstedt. Man feierte ihn 
weniger laut als jene beiden, weil die jüdischen Zeitungskritiker ihm groll- 
ten und seine oft an Platens Formenstrenge erinnernden Gedichte sich 
nicht singen ließen. Dennoch übertraf er sie durch Geist und Witz, durch die 
scharfe Welt= und Menschenkenntnis, die dem politischen Dichter so un- 
entbehrlich ist wie dem Historiker. Die leeren Allgemeinheiten verschmähend 
suchte er die grellen Widersprüche des deutschen Lebens zu anschaulichen 
Bildern zu gestalten und schilderte bald mit übermütigem Spott die
	        
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