376 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
aus der rasch anwachsenden Schar unzufriedener Leutnants, die aus
dem langweiligen Garnisonsdienste zur Schriftstellerei übergingen, der
hochherzige Enthusiast Friedrich von Sallet, dem leider das Pathos statt
der Schönheit galt, nahm der großen Mehrzahl der jungen Stürmer das
Wort von den Lippen, als er, noch immer im barschen Tone des mili-
tärischen Kommandos, kurzab fragte:
Für Fürstenmacht? Für Volkesrecht?
Für Geisteslicht? Für Pfaffendunkel?
Republikaner oder Knecht?
Ja oder nein! Nur kein Gemunkel! -
Entweder oder!
Ganz unwillkürlich ward auch Ferdinand Freiligrath in die Wirbel der
Tendenzpoesie hineingerissen, ein westfälischer Seelenmensch mit treu—
herzigen Kinderaugen, der zuerst durch die virtuose Behandlung fremd—
ländischer Stoffe Aufsehen erregt hatte. Seine Jugendgedichte vom Ritt
des Löwen auf der Giraffe, vom Mohrenfürsten, vom Banditenbegräbnis
schilderten fast durchweg fertige Situationen ohne dramatische Bewegung,
aber mit glühender Farbenpracht, in markiger, packender Sprache; und
wie sonderbar sich auch der Baobab, das Gnu, die Karroo und all der
andere ausländische Flitter in den deutschen Versen ausnahmen, so fühlte
der Hörer doch, daß alles selbsterlebt war, erlebt von einem tiefen deut—
schen Gemüte. Wenn der junge Poet in seinem weltabgeschiedenen hei—
mischen Städtchen hinter dem Ladentische stand oder nachher als Kauf—
mannsdiener in Amsterdam die mächtigen Ostindienfahrer an der Buiten—
kant landen sah, da ergriff ihn die Sehnsucht nach der Märchenwelt der
weiten Ferne; die glänzenden Gemälde, die ihm dann im Augenblicke auf-
stiegen, mußten auch augenblicklich von fröhlichen Freunden bestaunt werden,
und er selbst freute sich so herzlich daran wie ein Knabe an den Wundern
des Orbis pictus oder des Guckkastens. Das Ferne und Fremde trat ihm
menschlich nahe, sobald es sich ihm zum Bilde gestaltete. Als ihm einmal
in heller Sommernacht im Schlafzimmer ein Landsmann die alte Sage
erzählte, daß westfälische Legionäre beim Kreuze Christi Wache gehalten
und um des Heilands Kleid gewürfelt hätten, da stand ihm mit einem
Male vor Augen, wie dort auf Golgatha die alte und die neue Weltge-
schichte sich berührten; er sprang auf, schlug sich das Betttuch in male-
rischen Falten um das Hemde und rief: „In Christi Mantel der Ger-
mane!“ — den Schlußvers seines poetischen Gemäldes „die Kreuzigung“.
Derselbe Drang nach dem Hohen, Großen, Wunderbaren führte ihn
dann in die Reihen des allerwildesten Radikalismus, als die politische
Begeisterung ihn ergriff; die wildschöne Siegerin mit roter Mütze und
flatterndem Haar, die Revolution ward seine Göttin. Ehrlich im Hassen
wie im Lieben, harmlos unerfahren in der Welt der Geschichte, konnte er
nichts begreifen, was ihm Halbheit schien. Mit starker Leidenschaft, die