Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

32 V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. 
Von vornherein war der König darüber im reinen, daß die land— 
ständische Verfassung nicht in ihrem gegenwärtigen unentschiedenen Zu— 
stande verbleiben durfte. Er ahnte, diese große Frage würde den eigent— 
lichen Inhalt seiner ersten Regierungsjahre bilden, und bei einiger Ent— 
schlossenheit schien ihre Lösung keineswegs unmöglich. Die Verheißungen 
des alten Königs, wie planlos und unbedacht sie auch waren, enthielten 
nichts, was die Macht der Krone in der gegenwärtigen Lage irgend be— 
drohen konnte. Nach der Verordnung vom 12. Mai 1815 war der Mon— 
arch verpflichtet, eine beratende, aus den Provinzialständen gewählte 
Landesrepräsentation einzuberufen; die Art der Erwählung konnte er als 
alleiniger Gesetzgeber frei bestimmen. Er war ferner verpflichtet, die 
Grundsätze, nach denen Preußens Regierung bisher geführt worden war, 
in einer schriftlichen Verfassungsurkunde auszusprechen, deren Form und 
Inhalt ihm ebenfalls frei gestellt blieb. Endlich hatte der alte König 
durch das Staatsschuldengesetz vom 17. Jan. 1820 versprochen, daß dem 
künftigen Reichstage über die Staatsschulden jährlich Rechnung abgelegt, 
neue Schulden nur mit seiner Genehmigung aufgenommen werden sollten. 
Auch hiermit war streng genommen nur gesagt, daß die Reichsstände in 
regelmäßiger Wiederkehr einberufen werden mußten; die alljährliche Rech- 
nungsablegung konnte ja, wenn man sich mit ihnen verständigte, auch 
vor einem Ausschusse des Reichstags stattfinden. Zum überfluß besaß 
der Monarch die unbestrittene Befugnis, die Gesetze seines Vorgängers, 
sofern sie nicht die Rechte der Staatsgläubiger unmittelbar berührten, 
durch neue Gesetze aufzuheben. 
Hier zeigte sich aber, daß ein konstitutioneller Fürst in vielen Fällen 
mächtiger ist als ein unbeschränkter Herrscher. Die Zurücknahme eines 
übereilten Versprechens, die im konstitutionellen Staate, wenn der Reichs- 
tag zustimmt, ohne jede Schwierigkeit erfolgt, mußte dem absoluten Könige 
als eine Verletzung der Ehrfurcht gegen seinen Vater, fast als eine sitt- 
liche Unmöglichkeit erscheinen. Friedrich Wilhelm fühlte sich in seinem 
Gewissen an die alten Verheißungen gebunden, und doch sträubten sich 
alle seine Neigungen und Doktrinen wider ihre wörtliche Ausführung. 
Ihr Kernpunkt lag offenbar in der Einberufung eines regelmäßig wieder- 
kehrenden Reichstags; trat dieser nur erst als eine stehende Institution 
zusammen, in wie bescheidenen Formen immer, so mußte er sich unfehl- 
bar weiter entwickeln. Durch die Bildung der Provinzialstände hatte einst 
nicht eigentlich die Reaktion, sondern der Partikularismus gesiegt. Um 
so nötiger war es jetzt, nachdem die Provinzen in einem Vierteljahr- 
hundert sich doch leidlich zusammengefunden hatten, dem Sondergeiste der 
Landschaften ein starkes Gegengewicht zu geben, dem ganzen Volke endlich 
ein gemeinsames Arbeitsfeld zu eröffnen, auf dem sich ein bewußtes Preu- 
ßentum, eine lebendige Staatsgesinnung betätigen konnte. 
Das war es, was Preußens Nachbarn vornehmlich befürchteten. Nicht
	        
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