396 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft
Jahrzehnten — so schnell, daß die Kunststile dieses unruhigen Zeitalters
fast wie Moden erschienen — begann von Frankreich her der Rückschlag.
Cornelius und seine Schüler hegten einen hocharistokratischen Stolz,
der sich in diesem demokratisierten Jahrhundert nicht auf die Dauer behaup-
ten konnte, sie betrachteten die Kunst als eine vom gemeinen Alltagsleben
ganz abgetrennte Welt der Ideale, als einen Tempel, den niemand mit un-
heiligen Sohlen, niemand ohne stille Sammlung betreten sollte; und wie
sie in ihrem eigenen Schaffen die Technik gering schätzten neben der poeti-
schen Erfindung, so fühlten sie sich auch hoch erhaben über allem Kunst-
handwerk, während doch in wahrhaft schönheitsfrohen Zeiten die Kunst all-
gegenwärtig wirkt, durch Schmuck und Gerät das Leben jedes Hauses ver-
klärt. In Frankreich war das Kunstgewerbe nie so gänzlich zerstört worden
wie in dem verarmten Deutschland, und nicht zufällig geschah es, daß
dort die Malerei zuerst wieder versuchte, die Natur in jedem Zuge sorgsam
nachzubilden, durch Farbenreiz das Auge zu entzücken. Auch in der
Literatur aller Länder bekundete sich dieser der Grundstimmung der neuen
Zeit entsprechende realistische Drang mächtig, nur daß ihn die Dichter nach
ihrer nationalen Eigenart, in sehr verschiedenen Formen ausgestalteten.
Der Malerei aber dienten die französischen Koloristen unmittelbar zum
Vorbilde. Schon die Düsseldorfer Malerschule, die zuerst dem Idealismus
der Cornelianer schüchtern entgegentrat, lernte viel von den Franzosen,
und noch mehr verdankten ihnen die Belgier. Dort an der Schelde be-
gann die bildende Kunst in derselben Zeit wieder aufzublühen, als das Land
sich von der holländischen Herrschaft losriß; und da das zweisprachige Volk
eine nationale Dichtung nie erlangen konnte, der flamische Dichter Hendrik
Conscience doch nur für die Flamen schrieb, so hegten und pflegten alle Bel-
gier im schönen Wetteifer ihre junge farbenreiche Malerei als die nationale
Kunst: sie sollte die neu gewonnene Unabhängigkeit des Landes gleichsam
geistig vor Europa rechtfertigen. Im Jahre 1843 machten zwei wirksam
gemalte belgische Historienbilder, von Gallait und de Biefve, die Runde
durch Deutschlands Städte und wurden überall unmäßig bewundert; an
dieser Kraft der Farbe, an dieser naturgetreuen Charakteristik, so hieß ßes
allgemein, sollte die deutsche Kunst sich ein Beispiel nehmen. Um dieselbe
Zeit ward auch der größte der neufranzösischen Maler, Paul Delaroche
den Deutschen näher bekannt durch sein lebensvolles Bild Napoleon in
Fontainebleau. Die deutschen Kunstgelehrten, denen die spröde Strenge
des alten Idealismus noch im Blute lag, stritten sich ernsthaft über die
Frage, ob es auch ästhetisch erlaubt sei, daß dieser Cäsar, der nach langem
Fluchtritt erschöpft und verzweifelnd auf dem Stuhle saß, wirklichen
Schmutz an seinen Reitstiefeln trug. Die unbefangenen Beschauer aber
dankten dem fremden Künstler, daß er ihnen das Große und Furchtbare
so menschlich nahe brachte. Es war nicht anders, die Augen der Menschen
begannen sich zu verwandeln, sie verlangten nach sinnlicher Wahrheit,