Die Literaturgeschichte. 419
sprechen, was dieser Mann eigentlich hätte tun oder werden sollen. Der
ritterlichen Kampflust eines Hutten oder Lessing verzeiht der Leser alles,
selbst wo sie unrecht haben; Gervinus' schulmeisternder Hochmut aber ver—
letzte sogar noch tiefer als Schlossers sittenrichterlicher Eifer, der doch immer
ein warmes Herz erkennen ließ. Klassische Werke befreien die Seele,
das ist ihr sicherer Prüfstein; sie erheben den Leser, so daß er mit hellerem
Kopfe oder mit frischerem Mute in diese schöne Welt hineinschaut. Ger—
vinus' Buch weckte Verdruß und Ärger; das Beispiel seiner grausamen
Härte wirkte schädlich auf ein Volk, das ohnehin starke Talente nur
ungern anerkannte. Gerade die jungen, schaffensfrohen Dichter, die doch
für ästhetische und literarische Werke den natürlichen Leserkreis bilden, ver—
abscheuten Gervinus wie einen persönlichen Feind, wie einen Wüterich, der
ihnen die zarten Kinder der Muse schon im Mutterleibe vergiften wollte.
Wie anders verstand der junge Friedrich Vischer in seiner Asthetik pro-
duktive Kritik zu üben und durch neue Anschauungen, aus der Fülle des
Lebens heraus, zumeist die Künstler zu erfreuen.
Das wissenschaftliche Gebrechen der Literaturgeschichte lag in ihren
leichtfertigen Geschichtskonstruktionen. Gervinus stand der Philosophie
ebenso fern wie dem religiösen Glauben; gleichwohl vermaß er sich, so recht
im Gegensatz zu Rankes weiser Zurückhaltung, eine Geschichtsphilosophie
aus dem Armel zu schütteln, welche den Lebensnerv der historischen Welt,
die persönliche Freiheit zerstörte. Aus der Beobachtung wiederkehrender
Ereignisse, die doch auch nicht wiederkehren konnten, aus geistreichen Paral-
lelen und halbrichtigen Vergleichungen leitete er kurzweg historische Ge-
setze ab. Und gerade das wichtigste dieser Gesetze, das dem ganzen Buche
zu Grunde lag, war unzweifelhaft falsch. Gervinus behauptete, die Blüte-
zeiten der Religion, der Literatur, der Politik folgten aufeinander im Laufe
der Geschichte, während doch der Augenschein lehrt, daß Kunst und Dich-
tung ihr eigenes, ursprüngliches Leben führen, das durch die politischen
Schicksale wohl beeinflußt, aber nicht bedingt wird. Jedes Volk gestaltet
sich seine ästhetischen Ideale unfehlbar aus, sobald ihm neue mächtige
Gedanken Herz und Phantasie bewegen; die Engländer verdankten ihrer
ungestörten nationalen Entwicklung das beneidenswerte Glück, daß sie
sich immer in den Tagen ihres kriegerischen Ruhmes auch zu den höchsten
Dichtertaten aufschwangen; Deutsche und Italiener dagegen vollendeten
ihre klassischen Kunstwerke unter schweren politischen Mißgeschicken; andere
Nationen wiederum fühlten sich nach großen kirchlichen oder politischen
Kämpfen so erschöpft, daß ihre literarische Kraft eine Zeitlang erlahmte;
und schließlich sind doch Kunst und Dichtung, wenngleich nicht jede Zeit
das Größte schaffen konnte, allen Kulturvölkern immer so unentbehrlich
geblieben wie das liebe Brot. Für diese freie und doch nicht gesetzlose
Mannigfaltigkeit des historischen Lebens besaß Gervinus kein Verständnis;
er wollte durchaus dem Seidenwurm zu spinnen verbieten und erklärte
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