Lachmanns Schule. 423
mit realistischen Notizen überlasteten Gymnasien schon nicht mehr ver—
mochten, den klassischen Unterricht ganz auf seiner alten Höhe zu halten.
Gleichwohl hat Lachmann der Gestrenge auch als Vermittler gewirkt. Er
erreichte, daß der alte Gegensatz der Sach-Philologen und der Gramma—
tiker sich auszugleichen begann; seine genaue Textkritik ruhte stets auf
einem breiten Unterbau gründlicher historischer Untersuchungen, und un-
willkürlich traten seine Schüler den philologischen Historikern näher als
vordem die Schüler Gottfried Hermanns.
Kaum siebzig Jahre waren vergangen, seit F. A. Wolf einst in
Göttingen zuerst gewagt hatte, sich einen Studenten der Philologie zu
nennen, und zu welch einem mächtigen, vielastigen Baume hatte sich der
junge Setzling der Theologie seitdem ausgewachsen. Im Zeitalter der Re-
naissance suchte man die moderne Welt unmittelbar durch die antike neu
zu beleben. Palladio baute sein Olympisches Theater genau nach den
Vorschriften des Vitruv, Machiavellis Bücher von der Kriegskunst hielten
den Florentinern die römischen Kohorten als Musterbilder vor. Die deutsche
Philologie hingegen strebte seit Niebuhr, das Altertum dem neuen Ge-
schlechte lebendig zu vergegenwärtigen, sie suchte die antike Welt durch die
moderne zu beleben und zu beleuchten, das Ferne und Fremde dem histo-
rischen Verständnis der Gegenwart zu erschließen, indem sie die politischen,
die wirtschaftlichen, die literarischen Verhältnisse der neuen Zeit zur
Erklärung heranzog. Zu den beiden alten Heimstätten der Sprachwissen-
schaft Berlin und Leipzig trat jetzt Bonn als dritte hinzu; in der rheini-
schen Hochschule lebte der einst durch Niebuhr geweckte philologische Geist
kräftig wieder auf, seit dort neben dem geistvollen Asthetiker Welcker der
Thüringer Friedrich Ritschl seine reiche Lehrtätigkeit begann, ein strenger
Kritiker und Hermeneutiker, der beste Kenner altlateinischer Dichtung. —
Neben dem andauernden Glanze der historischen Wissenschaften ver-
blich nach und nach das Gestirn der Spekulation. Die antike Philosophie
stand hoch über dem Volksglauben, die christliche steht unter ihm; sie bildet
Denker, nicht Weise, sie gelangt nicht hinaus über die erhabene Sittlich-
keit der Evangelien. Darum verfiel sie fast immer, nach einer Zeit der
Blüte, in einen trügerischen Hochmut, dem dann unausbleiblich ein
Rückschlag folgen mußte. Übermütiger als in Deutschland hatte sie sich
noch nirgends gezeigt; dahin war es mit ihr gekommen, daß sie auf dem
eingeschlagenen Wege nichts mehr beweisen, sondern nur noch sich selber
aufheben konnte. Derweil die letzten Hegelianer noch mit der alten Zu-
versicht, aber von der Nation kaum beachtet, die Formeln des Systems
wiederholten, stellte Feuerbach schon die Sätze auf: keine Philosophie, meine
Philosophie; keine sinnliche Existenz ist keine Existenz — bis er endlich