Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

462 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft. 
versöhnlich; sie lobten den Vertrag, der doch ihren Grundsätzen zuwider- 
lief — weil List dabei mitgeholfen hatte. — 
Wenn Preußens Handelspolitik schon diesem kleinen westlichen Nach- 
barn gegenüber sich nicht frei bewegen konnte, so war sie vollends im Osten 
schwer bedrängt. Seit dem Jahre 1836, seit der alte König sich geweigert 
hatte, mit der vertragsbrüchigen Nachbarmacht einen neuen Handelsver- 
trag abzuschließen, verfuhren Preußen und Rußland an ihrer Grenze 
beide ganz nach Willkür; es bildete sich dort, wie König Friedrich Wilhelm 
selbst sagte, „ein unter benachbarten und befreundeten Völkern ganz un- 
gewöhnlicher Zustand.“) In seinen ersten Regierungsjahren hatte Zar 
Nikolaus die nationalen Gedanken der Moskowiter fast ebenso mißtrauisch 
betrachtet wie die liberalen Ideen, weil die Führer der gegen seinen Thron 
verschworenen Dekabristen ja allesamt altrussischen Adelsgeschlechtern 
angehörten; nach der Zerschmetterung des polnischen Aufruhrs näherte 
er sich jedoch mehr und mehr den Bestrebungen der moskowitischen Partei, 
die ohnehin seinem rohen Bildungshasse zusagten. Er wollte sein heiliges 
Rußland absperren von den Ideen wie von den Waren des verderbten 
Westens; seinem preußischen Vertrauten Rauch gestand er offen: ich muß 
die Grenze geschlossen halten, damit die polnischen Flüchtlinge nicht ihr 
revolutionäres Gift ins Land bringen.“) Das unterjochte Polen wurde 
im wesentlichen als eine russische Provinz behandelt, und schon begannen 
auch die ersten Angriffe auf die alten Landesprivilegien der treuen bal- 
tischen Provinzen. Hier in dieser halborientalischen Welt, wo die Religion 
die Menschen noch fester als der Staat aneinander bindet, war es ein 
furchtbarer Schlag für das lutherische Deutschtum der Ostseelande, daß 
jetzt Tausende von esthischen und lettischen Bauern durch gleißende Ver- 
sprechungen zur orthodoxen Kirche hinübergelockt, binnen wenigen Jahren 
zwanzig griechische Gotteshäuser auf den Krondomänen erbaut wurden. 
Die neuen, durch Cancrins Prohibitivsystem künstlich geförderten Fabriken 
siedelten sich meist um Moskau an, der Schwerpunkt des Reiches verschob 
sich nach dem Süden hin; eine neue Zeit kündigte sich an, die das Kultur- 
werk Peters des Großen zu zerstören drohte. Einheit der Sprache, des 
Rechtes, des Glaubens überall unter dem Zepter des weißen Zaren 
— so lautete jetzt die Losung, und sie entsprach unzweifelhaft der Ge- 
sinnung der herrschenden Klassen. 
In dem Jahrhundert der nationalen Ideen und Grundsätze mußte 
das grausame Gesetz des historischen Undanks, das fast alle Kulturvölker 
an sich erprobt haben, sehr wirksam hervortreten, zumeist zu Deutschlands 
Schaden. Wie die Deutschen einst selber, kaum herangereift, ihre Lehrer 
und Kulturbringer, die Römer aus dem Lande vertrieben hatten, so waren 
  
*) Kabinettsordre an Bülow, 7. Juni 1842. 
**) Rauchs Bericht an den König, 8. Dez. 1842.
	        
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