472 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
wo bot sich ein Ausweg aus diesem Gewoge der Parteien? Sein neuer
Finanzminister Flottwell dachte im Herzen, wie damals fast alle Ost-
preußen, streng freihändlerisch; Kühne wollte von dem bestehenden mäßigen
Tarife nur im Notfall einige Sätze erhöhen; und neben den beiden stand
der radikale Schutzzöllner Rönne.
Unter so trüben Aussichten begann im Juli 1845 die Karlsruher
Zollkonferenz, die unfriedlichste der gesamten Zollvereinsgeschichte. Sie
währte unter wachsender Aufregung fast vier Monate. Eine Menge aus-
ländischer Agenten war zur Stelle; die Engländer vornehmlich drängten
sich so roh an die Bevollmächtigten heran, daß giftige Nachreden nicht
ausbleiben konnten. Um des Friedens willen erklärte sich Preußen bereit,
die Zölle auf Leinen-, Baumwoll- und Kammgarn etwa zu verdoppeln;
noch in den letzten Tagen hatte der König seinen neuen Handelsrat nach
Stettin berufen und ihm selber die Frage vorgelegt, „bis wohin wir den
süddeutschen Begehren nachgeben können“.) Baden und Württemberg
aber ließen sich fortreißen von dem wilden Ungestüm ihrer Schutzzoll-
Partei, obgleich sie wußten, daß Sachsen und die meisten anderen der nord-
deutschen Verbündeten die Nachgiebigkeit Preußens schon zu groß fanden;
sie verlangten noch mehr und schließlich: alles oder nichts! Sie allein
verschuldeten also, daß wieder kein Beschluß zu stande kam und die Kon-
ferenz in arger Zwietracht auseinander ging. Die besonnenen An-
hänger der nationalen Handelseinheit fühlten sich tief niedergeschlagen; die
radikalen Freihändler und die Fremden triumphierten, ja der englische
Gesandte Sir A. Malet erfrechte sich sogar, die Mitglieder der Kon-
ferenz zu einem großen Siegesmahle einzuladen. Dies ward freilich durch
Radowitz hintertrieben und nachher vom preußischen Hofe als eine An-
maßung scharf zurückgewiesen.)
Von neuem, und noch lauter denn zuvor, erhoben jetzt die entrüsteten
Schutzzöllner ihren Schlachtruf. Im Stuttgarter Ständesaale wurden
Metternichs Mautbeamte als Deutschlands natürliche Beschützer verherr-
licht, die Preußen als Schleppträger Englands gebrandmarkt, obgleich Aber-
deen gegen Bunsen beständig klagte: die Handelsbeziehungen sind das ein-
zige, was uns von Preußen trennt ??*) — und gerade in diesen Tagen eine
Depesche des Lords an Westmoreland bekannt wurde, die sich sehr gereizt
über Preußens feindselige Handelspolitik aussprach. Dem Münchener
Landtage schilderte der Abgeordnete Neuffer die alte Handelsknechtschaft der
Deutschen, die jetzt durch Preußens Schuld wiederkehre. Lists Genossen
in der Presse fanden kaum mehr Worte genug für die Dummheit, die
Schlechtigkeit der deutschen „Bureaukratie“. Aber gerade dies Übermaß
sinnloser Schmähungen zwang die Bureaukraten, die den Zollverein doch
*) König Friedrich Wilhelm an Thile, 8. Juli 1845.
*?) Canitz, Weisung an Radowitz, 10. Okt. 1844.
*#„) Bunsens Berichte, 26. März 1844 ff.