Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Veränderung der Lebensgewohnheiten. 507 
Allein sehr bald zeigte sich auch die Schattenseite des gewaltigen 
neuen Verkehrs. Unser Stolz war der starke wehrhafte Bauernstand. 
Deutschland besaß nach Verhältnis fast dreimal mehr Ackerland und 
sechsmal weniger unproduktiven Boden als Großbritannien, wo der Adel 
die Bauern großenteils ausgekauft hatte. Die Bevölkerung war in leid— 
lichem Gleichmaß über Stadt und Land verteilt; darum bewahrte sich 
das deutsche Leben noch immer einen Zug ursprünglicher Kraft und un— 
schuldiger Frische, dessen die urbane Kultur der südlichen und westlichen 
Nachbarvölker fast ganz entbehrte. Jetzt aber begann auch in Deutschland, 
erst langsam, dann unaufhaltsam anschwellend, der Zudrang zu den 
Städten. In Breslau entstand neben den Bahnhöfen nach kurzer Zeit ein 
neuer Stadtteil; in Hamburg, in Stettin, in Leipzig, selbst in dem stillen 
Dresden, wo man der Fremden halber die rauchenden Schlote ungern 
sah, wuchsen die Fabriken heran. Die Hast, die Genußsucht, die Un— 
zufriedenheit des großstädtischen Lebens verbreiteten sich weithin in die 
kleinen Ortschaften und über das flache Land. Und wie gründlich wurden 
alle Lebensgewohnheiten durch die Massenproduktion der jungen Groß— 
industrie verändert. Viele der gerühmten neuen Erfindungen, zumal in 
der Textilindustrie, waren ganz unnütz; sie förderten lediglich die Über- 
produktion, den wilden Kampf der Konkurrenz, den rastlosen Wechsel der 
Moden. Die derben alten Tuche, die sich der sparsame Bürgersmann 
nach vier Jahren noch einmal wenden ließ, kamen allmählich ab; die ele- 
ganten und wohlfeilen modernen Stoffe aber überdauerten selten einen 
Sommer. Der Düsseldorfer Maler wußte längst nicht mehr, womit er 
malte, und wenn er nachher die herrlich leuchtenden Farben seines Fabri- 
kanten unbegreiflich schnell verbleichen oder gar den Firnis abbröckeln 
sah, dann beneidete er die schlichten alten Meister, die ihre Farben noch 
selber rieben und sich's darum auch zutrauten, für die Zukunft zu malen. 
Der Schriftsteller desgleichen konnte sich der angenehmen Erwartung hin- 
geben, daß seine auf dem dünnen, glatten Maschinenpapiere wohlfeil und 
schnell gedruckten Werke in hundert Jahren buchstäblich unlesbar sein 
würden. 
Kurzlebig, vergänglich war alles, was die neue Industrie hervorbrachte, 
und es konnte nicht ausbleiben, daß diese Flüchtigkeit der wirtschaftlichen 
Arbeit auf die ganze Weltanschauung des Zeitalters zurückwirkte. Der 
große Ehrgeiz, der für die Dauer schaffen will, wird immer nur einzelne 
starke Geister beseelen; doch kaum jemals in der Geschichte ist die Lehre, 
daß der Mensch am Tage den Tag lebe, mit solcher Selbstgefälligkeit ver- 
kündigt worden, wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. 
Die gesamte radikale Literatur der Zeit predigte in mannigfachen Wen- 
dungen: mit der schweren alten Wissenschaft sei es vorbei, nur in der 
leichten Form der Publizistik könne das freie moderne Bewußtsein seinen 
Ausdruck finden, nur wer den Duft des frisch bedruckten Zeitungspapieres
	        
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