510 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
Doch über Hungerlöhne, Kinderarbeit, Mißhandlung und Ausbeutung der
Leute wurde schon laut geklagt, viele deutsche Fabrikanten hatten schon
das schändliche englische Trucksystem, die Ablöhnung der Arbeiter durch
Waren eingeführt; und als der wackere Breslauer Wolff (1843) das
grauenhafte Elend in den Arbeiterwohnungen der „Kasematten“ seiner
Vaterstadt schilderte, da erkannte man mit Schrecken, daß auch Deutsch-
land schon Höhlen des Jammers besaß, die sich mit der Pariser Rue de
la misère oder dem Impasse des cloaques vergleichen konnten. Den be-
sitzenden Ständen fehlte noch fast jedes Verständnis für die Empfindungen
der Masse. Mancher Fabrikant im Erzgebirge erzählte unbefangen, ohne
sich etwas Schlimmes dabei zu denken: sein Arbeiterstamm vermehre sich
durch Inzucht in den neuerbauten Arbeiterkasernen; dort mochten die Leute
nach Belieben in wilder Ehe beisammen leben, die nachsichtigen Behörden
kümmerten sich nicht darum. Welche Kluft die Höhen und die Tiefen
der Gesellschaft trennte, das zeigte sich grell an dem Schicksal der Dorf-
geschichten. Die Verfasser dieser so volksfreundlich gemeinten Dichtungen
machten allesamt die tragikomische Erfahrung, daß ihre Werke dem nie-
deren Volke ganz unverständlich blieben, weil der kleine Mann nur Schrift-
deutsch lesen kann. Not und Trägheit setzten den Erziehungsversuchen
der Staatsgewalt einen ungeheueren Widerstand entgegen. Nach so langen
Jahren eifriger Arbeit war die preußische Unterrichtsverwaltung doch erst
dahin gelangt, daß in Posen 61, in der Rheinprovinz 80 Prozent der
schulpflichtigen Kinder die Schule besuchten, nur in der Provinz Sachsen
schon 93 Prozent; und gerade die großen Fabrikstädte zeichneten sich durch
die Verwahrlosung der Jugend bedenklich aus: in Elberfeld gingen nur
79, in Aachen gar nur 37 Prozent der Kinder zur Schule.
Der König betrachtete die Beschützung der kleinen Leute als heilige
Christenpflicht; Parteilichkeit für das Großkapital lag seiner politischen
Gesinnung fern, wieder und wieder beschäftigte ihn die Frage, ob er nicht
in seinem geplanten Vereinigten Landtage den Arbeitern eine besondere
ständische Vertretung gewähren solle. Er freute sich herzlich und bewil-
ligte reiche Unterstützungen, als in Berlin nach der Gewerbeausstellung
von 1844 ein „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ zusammen-
trat, der durch Volks-Sparkassen, Schulen, gemeinnützige Schriften zu
wirken suchte. In vielen großen Städten entstanden dann ähnliche Ver-
eine; Barmherzigkeit gegen die Armen war die Losung, die von dem
frommen Hofe ausging. Doch leider fehlte dem Monarchen alle Kenntnis
des praktischen Lebens; seine Beamten aber hielten fast allesamt noch
das Anwachsen der neuen Großindustrie für einen Kulturfortschritt schlecht-
hin und scheuten sich, die Unternehmer zu belästigen. An eine irgend ernst-
hafte Beaufsichtigung der Fabriken wagte man noch kaum zu denken.
Als die Provinzialstände von Rheinland und Westfalen (1843) ein Ge-
setz gegen das Trucksystem verlangten, da erwiderte die Krone: im Not-