Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

512 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft. 
wie furchtbar die Freiheit des Auskaufens gerade unter den armen Leuten auf- 
räumen sollte. Die Mehrzahl der kleinen Bauernstellen wurde nach und nach 
eingezogen, und während früherhin die Bauern, Kossäten, Häusler, Einlieger 
insgesamt dem einen Stande der bäuerlichen Gutsuntertanen angehört 
hatten, trennte sich jetzt die ländliche Bevölkerung allmählich in zwei Klassen. 
Tief unter den Bauern stand fortan ein ländliches Proletariat von 
freien, wirtschaftlich ganz ungesicherten Tagelöhnern. Der halbfreie kleine 
Gutsuntertan der alten Zeit war zwar an die Scholle gebunden, aber 
auch berechtigt, diese Scholle zu bebauen; er nahm auch teil an der Ge- 
meindenutzung und der Gutsherr half ihm zuweilen durch. Die neuen 
Tagelöhner besaßen an Boden wenig oder nichts. Selbst bei der Gemein- 
heitsteilung gingen die Armen leer aus, weil ihnen die Auftrift nur kraft 
alter Gewohnheit, nicht von Rechts wegen zustand, und sie llagten bitter- 
lich: jetzt werden die Bauern zu Edelleuten, wir zu Bettlern. Zudem 
waltete auch im Landvolke der Drang nach persönlicher Unabhängigkeit, 
der das ganze Jahrhundert wie eine unwiderstehliche Naturgewalt be- 
herrschte. Die Masse der Häusler und die der ganz besitzlosen Einlieger 
wuchs weit schneller an als die Zahl der neben dem Herrenhofe angesiedel- 
ten, oft besser versorgten Gutstagelöhner; man band sich nicht mehr gern 
für längere Zeit. Inzwischen nahmen die Kartoffelbrennerei und die Run- 
kelrübenwirtschaft überhand, die Schlempe wurde der großen Wirtschaft 
auf dürrem Sandboden bald unentbehrlich; die Arbeiter hatten in diesen 
neuen landwirtschaftlichen Industriezweigen oft noch schwerer zu leiden 
als ihre Genossen in den städtischen Fabriken. In der neuen Gesell- 
schaft fühlten sich die Tagelöhner haltlos, vereinzelt; die patriarchalische 
Gutsherrschaft bestand nicht mehr, und an den Beratungen der Dorf- 
gemeinde hatten sie keinen Anteil. Das Landvolk besitzt aber ein zähes 
Gedächtnis. Die längst entschwundenen Zeiten, da jedermann sich im 
reichen Walde mit Holz laden durfte, blieben noch überall in Deutsch- 
land unvergessen, und nirgends wollte der Landmann recht einsehen, daß 
Waldfrevel wie andere Vergehen bestraft werden sollten. So wußte auch 
der neue Stand der freien Tagelöhner sehr wohl, daß seine Vorfahren 
einst ein Stück Land für sich selber bebaut hatten. Er fühlte dunkel, 
daß er unrecht erlitten hatte, und allerdings war er das Opfer einer 
mittlerweile veralteten sozialpolitischen Denkweise; denn niemand kann 
gänzlich aus seiner Zeit heraus, die segensreichen Reformen Steins und 
Hardenbergs wurzelten doch in der Weltanschauung des achtzehnten Jahr- 
hunderts, das unter dem Volke immer nur die Mittelklassen verstand und 
von den arbeitenden Massen wenig wußte. Da auf dem Lande der Grund- 
besitz eines und alles ist, so war den Wünschen der grollenden Tagelöhner 
ein bestimmtes Ziel gewiesen, und als die Revolution hereinbrach, klang 
aus aller Munde wie ein Naturlaut die Forderung: der König muß 
uns Land verschreiben. —
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.