512 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
wie furchtbar die Freiheit des Auskaufens gerade unter den armen Leuten auf-
räumen sollte. Die Mehrzahl der kleinen Bauernstellen wurde nach und nach
eingezogen, und während früherhin die Bauern, Kossäten, Häusler, Einlieger
insgesamt dem einen Stande der bäuerlichen Gutsuntertanen angehört
hatten, trennte sich jetzt die ländliche Bevölkerung allmählich in zwei Klassen.
Tief unter den Bauern stand fortan ein ländliches Proletariat von
freien, wirtschaftlich ganz ungesicherten Tagelöhnern. Der halbfreie kleine
Gutsuntertan der alten Zeit war zwar an die Scholle gebunden, aber
auch berechtigt, diese Scholle zu bebauen; er nahm auch teil an der Ge-
meindenutzung und der Gutsherr half ihm zuweilen durch. Die neuen
Tagelöhner besaßen an Boden wenig oder nichts. Selbst bei der Gemein-
heitsteilung gingen die Armen leer aus, weil ihnen die Auftrift nur kraft
alter Gewohnheit, nicht von Rechts wegen zustand, und sie llagten bitter-
lich: jetzt werden die Bauern zu Edelleuten, wir zu Bettlern. Zudem
waltete auch im Landvolke der Drang nach persönlicher Unabhängigkeit,
der das ganze Jahrhundert wie eine unwiderstehliche Naturgewalt be-
herrschte. Die Masse der Häusler und die der ganz besitzlosen Einlieger
wuchs weit schneller an als die Zahl der neben dem Herrenhofe angesiedel-
ten, oft besser versorgten Gutstagelöhner; man band sich nicht mehr gern
für längere Zeit. Inzwischen nahmen die Kartoffelbrennerei und die Run-
kelrübenwirtschaft überhand, die Schlempe wurde der großen Wirtschaft
auf dürrem Sandboden bald unentbehrlich; die Arbeiter hatten in diesen
neuen landwirtschaftlichen Industriezweigen oft noch schwerer zu leiden
als ihre Genossen in den städtischen Fabriken. In der neuen Gesell-
schaft fühlten sich die Tagelöhner haltlos, vereinzelt; die patriarchalische
Gutsherrschaft bestand nicht mehr, und an den Beratungen der Dorf-
gemeinde hatten sie keinen Anteil. Das Landvolk besitzt aber ein zähes
Gedächtnis. Die längst entschwundenen Zeiten, da jedermann sich im
reichen Walde mit Holz laden durfte, blieben noch überall in Deutsch-
land unvergessen, und nirgends wollte der Landmann recht einsehen, daß
Waldfrevel wie andere Vergehen bestraft werden sollten. So wußte auch
der neue Stand der freien Tagelöhner sehr wohl, daß seine Vorfahren
einst ein Stück Land für sich selber bebaut hatten. Er fühlte dunkel,
daß er unrecht erlitten hatte, und allerdings war er das Opfer einer
mittlerweile veralteten sozialpolitischen Denkweise; denn niemand kann
gänzlich aus seiner Zeit heraus, die segensreichen Reformen Steins und
Hardenbergs wurzelten doch in der Weltanschauung des achtzehnten Jahr-
hunderts, das unter dem Volke immer nur die Mittelklassen verstand und
von den arbeitenden Massen wenig wußte. Da auf dem Lande der Grund-
besitz eines und alles ist, so war den Wünschen der grollenden Tagelöhner
ein bestimmtes Ziel gewiesen, und als die Revolution hereinbrach, klang
aus aller Munde wie ein Naturlaut die Forderung: der König muß
uns Land verschreiben. —