Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

522 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft. 
größten Teil ihrer dürftigen Ernte in das Ausland verkaufen. Bei dem 
allgemeinen Elend zeigte sich der Bundestag wieder ebenso nichtig wie 
vor dreißig Jahren, und wieder wie damals verbot Osterreich bundes- 
freundlich sofort die Getreide-Ausfuhr nach den deutschen Nachbarländern. 
Aber auch der Zollverein einigte sich nicht rechtzeitig über gemeinsame 
Maßregeln; man fühlte nur zu schmerzlich, daß der alte König, Motz und 
Eichhorn nicht mehr umsichtig den nationalen Handelsbund behüteten. 
Jeder Bundesstaat handelte auf eigene Faust, am klügsten das Königreich 
Sachsen, das die Ausfuhrverbote des österreichischen Nachbarn nicht er- 
widerte, sondern mit mäßigen Getreide-Einkäufen und einer sehr milden 
Beaufsichtigung des Bäckergewerbes leidlich auskam. Hier allein blieb die 
Ruhe ganz ungestört. Fast überall sonst in den größeren Städten, selbst 
in dem stillen Stettin mußten Zusammenrottungen der hungernden kleinen 
Leute mehr oder minder gewaltsam auseinander getrieben werden. Viel 
zu denken gaben die Unruhen, welche Berlin im April 1847 drei Tage 
hintereinander heimsuchten. Sie wurden durch die Schlaffheit des greisen 
(Gouverneurs Müffling genährt, dann durch das entschlossene Eingreifen 
des Generals Prittwitz und seiner Kürassiere gestillt. Es fiel doch auf, 
wie viele wohlgekleidete Männer sich unter dem hungernden Pöbel um- 
hertrieben; die zahlreichen Verwundeten hielten sich allesamt versteckt, 
kein einziger meldete sich in den öffentlichen Krankenhäusern. Man konnte 
sich des Verdachtes kaum erwehren, daß eine verschworene Umsturzpartei 
die gute Stunde benutzt hatte, um die Widerstandskraft der Staatsgewalt 
einmal auf die Probe zu stellen. Erschreckt durch diese Unruhen, ließ der 
König, um den Armen das unentbehrlichste Nahrungsmittel zu erhalten, 
für einige Zeit die Ausfuhr der Kartoffeln und die Branntweinbrennerei 
untersagen — ein Verbot, das nichts nützte, sondern, wie Kühne vorher- 
sagte, die allgemeine Besorgnis nur steigerte. Der hessische Minister du 
Thil ließ in Holland Getreide einkaufen und verschaffte sich dazu Kredit- 
briefe vom Hause Rothschild. Als aber die Mehrzahl der holländischen 
Verkäufer vorzog, sich in Mainz bar bezahlen zu lassen, da wollte der 
menschenfreundliche Rothschild aus der ungewöhnlichen Landesnot auch 
noch einen ungewöhnlichen Gewinn ziehen und verlangte Entschädigung 
für die unbenutzten Kreditbriefe — was du Thil als „eine Unverschämt- 
heit“ rundweg zurückwies.) Also half sich jeder Landesherr, wie er konnte; 
im Volke blieb viel dumpfer Mißmut zurück. 
Nur an einer Stelle Deutschlands wütete verheerend die Hungers- 
not: unter den Wasserpolen Oberschlesiens. Diese blutarmen Berg- 
arbeiter hatten drei Jahre nacheinander die Kartoffelernte mißraten sehen, 
sie hatten „die Bergmannskuh“, die Ziege längst geschlachtet, sie waren 
entnerot durch die Branntweinspest. Nun da sie schon alle Hoffnung 
S –.# — 
*) Nach du Thils Aufzeichnungen.
	        
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