Die deutsche Nation und der Offene Brief. 579
ließ. Zugleich setzte Samwer wieder seine scharfe Feder ein. Dirckinck-
Holmfeld, der Historiograph Wegener und die anderen dänischen Publi-
zisten sahen sich bald in die Enge getrieben; sie merkten selbst, wie wenig
die Erbhuldigung des Jahres 1721 bedeutete, und suchten andere Aus-
flüchte. Mit Maulwurfs-Eifer gruben diese Demokraten die unterlassenen
Lehensmutungen der Sonderburger Linie aus, ja sie wollten den jungen
augustenburgischen Prinzen sogar die Ebenbürtigkeit bestreiten, weil der
Herzog und sein Bruder zwei Gräfinnen Danneskiold geehelicht hatten;
und doch wußte jedermann, daß die Frage der Mißheirat allein nach den
Hausgesetzen und dem Hausbrauche jeder einzelnen Dynastie beurteilt wer-
den darf, und gerade im Hause Holstein-Oldenburg waren Ehen mit
Frauen vom niederen Adel von jeher häufig vorgekommen. In Schleswig-
holstein ließ sich niemand durch solche Fechterkünste beirren. Das Land
hielt zusammen wie eine große Familie, die ihr Hausrecht wahrt, der ge-
meinsame Kampf führte alle Stände in ungewohnter Herzlichkeit einander
näher; und wenn die deutschen Nachbarn früherhin manchmal gutmütig
über den Hahnenschritt der holsteinischen Normalmenschen gespottet hatten,
so freuten sich jetzt alle an dem schönen Einmut ihrer Nordmark.
Der Offene Brief regte die öffentliche Meinung in ganz Deutschland
so mächtig auf wie vor sechs Jahren das Kriegsgeschrei der Franzosen.
Damals aber hatte die Nation einem ebenbürtigen Feinde die stolze Stirn
geboten; jetzt fühlte sie sich bitterlich beschämt, da ein winziger Nachbar
deutsches Recht mit Füßen trat, ohne nach Deutschland auch nur zu
fragen, und Geibel nahm allen das Wort vom Munde, als er sang:
Mich will's bedünken fast gleich eimem Schwanke,
Daß dieses Inselreich, das kleine, schwache,
Aufbäumend wie ein zorn'ger Meeresdrache
Sich wider uns erhebt zu grimmem Zanke.
In einer Masse von Flugschriften und Gedichten, von Versammlungen
und Reden entlud sich der Sturm. Die Heidelberger Gelehrten gingen
voran, sic sendeten schon im Juli an W. Beseler eine von Gervinus
verfaßte Adresse: „es gibt keine größere politische und nationale Sünde
als die Selbstversäumnis.“ Da der ernste nationale Machtkampf zunächst
in der Gestalt einer staatsrechtlich-historischen Streitfrage erschien, so trat
das Professorentum wieder für einige Zeit in den Vordergrund des deut-
schen Lebens. Hälschner in Bonn und viele andere Historiker und Juristen
erörterten den Erbfolgekampf in gelehrten Streitschriften; der Berliner
Helwing verteidigte sogar die wohlgemeinte, aber ganz haltlose Behaup-
tung, daß die Erbfolge in den Herzogtümern dem Hause Brandenburg
gebühre. Großes Aufsehen erregte General Radowitz durch sein Schriftchen:
Wer erbt in Schleswig? Er verfocht ohne jeden Vorbehalt die Rechts-
anschauung der Schleswigholsteiner, da er durch seine Verwandten, die
Reventlows, die transalbingischen Verhältnisse gründlich kennen gelernt
37“