Savigny und Uhden. Ständische Bewegung. 601
Unterdessen schwoll die konstitutionelle Bewegung im Lande beständig
an. Der König hatte im Jahre 1843 den Posener Landständen rundweg
erwidert, daß er die Verordnung vom 22. Mai 1815 nicht als rechts-
verbindlich ansehe, und dadurch wie durch sein rätselhaftes Zaudern die
allgemeine Besorgnis nur gesteigert. Auf den Provinziallandtagen von
1845 zeigte sich schon fast überall eine ungeduldige, gereizte Stimmung.
In Münster sagte der junge Freiherr Georg v. Vincke, ein Sohn des
alten Oberpräsidenten: Preußen müsse sich, wie im Zollvereine, so auch
durch eine freie Verfassung „an die Spitze der deutschen Staaten stellen“;
er sprach damit nur aus, was die Jugend überall dunkel erhoffte, der preu-
ßische Ehrgeiz und der Liberalismus begannen sich zu verbünden. Sein
Antrag, die Krone um Verleihung einer reichsständischen Verfassung zu
bitten, erlangte zwar bei den konservativen Westfalen noch nicht die gesetz-
liche Zweidrittelmehrheit, doch seine mächtige Rede hallte weit im Lande
wider. Stärkere Zustimmung fand der gleiche Antrag bei den Ständen
des Rheinlands; Beckerath, Camphausen, fast alle Führer des rheinischen
Bürgertums traten lebhaft dafür ein, und vornehmlich sprach aus ihren
Reden die stolze Zuversicht, daß die Institutionen des freien Rheinlands
unter dem Schutze der Verfassung dem gesamten preußischen Staate zu teil
werden müßten. Dem preußischen Landtage überreichten die radikalen
Elbinger eine Petition, welche noch weit über die königlichen Verheißungen
hinausging und in starkem, fast drohendem Tone eine alle Klassen um-
fassende Landesrepräsentation forderte. Wie unwiderstehlich waren doch
die Verfassungsgedanken in kurzen vier Jahren erstarkt. Alle Provinzial-
landtage — nur Brandenburg und Pommern ausgenommen — berieten
den Antrag auf Verleihung einer Gesamtstaats-Verfassung, und in allen
sechs — mit der einzigen Ausnahme Sachsens — erlangte er die Mehrheit,
die Zweidrittelmehrheit freilich nur in Preußen und Posen. Als man im
Ministerium die Summe zog, da ergab sich, daß schon die große Mehr-
zahl aller Provinzialabgeordneten für die reichsständische Idee gewonnen
war, und man war ehrlich genug einzugestehen, daß viele aus der Minder-
heit lediglich aus Ehrfurcht vor der Krone ihre wahre Meinung zurück-
gehalten hatten.) Gleichwohl ließ der König, da niemand ihm vorgreifen
durfte, alle solche Wünsche abermals kurz abweisen, desgleichen die Bitte
der Schlesier um Preßfreiheit und die wiederholten Anträge auf Offentlich-
keit der Landtagsverhandlungen. Er rühmte oft, kein Land der Welt be-
sitze so ganz unabhängige Landstände, und in der Tat war alle Kor-
ruption, alle Wahlverfälschung in Preußen noch ganz unbekannt; doch
wenn er von seinen Ständen so hoch dachte, wie konnte er dann hoffen,
daß sie sich auf die Dauer bei seinem beharrlich wiederholten achtfachen
Nein beruhigen würden?
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*) Denkschrift des Ministeriums des Innern, 13. Mai 1845.