Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

618 V. 8. Der Vereinigte Landtag. 
stützen, doch völlig ratlos. Wo war ein Ausweg aus diesem durch den 
Monarchen allein verschuldeten Rechtsgewirre? Der König hatte, den 
Rat des Grafen Arnim verschmähend, sich nicht auf den unangreifbaren 
Rechtsboden der Gesetze seines Vaters gestellt, sondern den Ständen 
einerseits alte Rechte genommen, andererseits neue, größere Rechte ge— 
schenkt; er hatte — daran hing alles — die Wiederberufung des Ver— 
einigten Landtags durchaus seinem eigenen Ermessen vorbehalten und 
also das ganze Verfassungswerk, das doch gerade abgeschlossen werden 
sollte, noch in der Schwebe gelassen. Und unmöglich konnte der absolute 
König, nach so großen freiwilligen Gewährungen, seine neue Gesetz- 
gebung auf den Wunsch der Stände sofort wieder ändern; das Ansehen 
der Krone und der persönliche Stolz Friedrich Wilhelms hätten unter 
solcher Nachgiebigkeit zu schwer gelitten. 
So stand denn dieser durch und durch königstreue, gemäßigte, be- 
sonnene Landtag vor einer fast unlösbaren Rechtsfrage. Die Abgeord- 
neten sagten sich: entweder sind wir die von dem alten Könige verheißene 
Landesrepräsentation, dann müssen wir auch alle ihre Rechte für uns 
verlangen; oder wir sind ein nach dem Belieben des neuen Herrschers 
berufener Ständetag, dann dürfen wir die Rechte der Landesrepräsentation 
nicht ausüben. Kühne Realpolitiker, wie der junge Deichhauptmann Otto 
v. Bismarck, der hier zuerst in das öffentliche Leben eintrat, mochten wohl 
über solche Skrupel lachen, denn mit voller Sicherheit ließ sich vorher- 
sehen, daß der Vereinigte Landtag zu einer dauernden Institution des 
Staates werden mußte; für den streng gesetzlichen Sinn der Mehrheit 
aber waren die Rechtsbedenken fast unüberwindlich. Und leider ward die 
Haltung der Opposition auch durch eine geheime Unwahrheit verdorben. 
Die Männer, die sich so streng auf den Rechtsboden beriefen, wollten in 
Wahrheit weit mehr, als die alten Gesetze verhießen. Sie trugen durch- 
aus kein Bedenken, das neue Steuerbewilligungsrecht, das ihnen der König, 
den alten Gesetzen zuwider, geschenkt hatte, gleichsam als gute Prise an- 
zunehmen, denn sie hofften insgeheim den Monarchen Schritt für Schritt 
auf neue Bahnen zu drängen. Die Mehrzahl der Rheinländer und viele 
Vertreter der großen Städte des Ostens dachten an eine Verfassung 
belgischen Stiles, die liberalen Edelleute an eine mächtige ständische Ver- 
sammlung. 
Allen diesen Bestrebungen hatte der König durch die willkürlich dilet- 
tantische Behandlung der Rechtsfragen selber Tür und Tor geöffnet. 
Das Wagnis seiner Politik war um so gefährlicher, da hinter den Ständen 
noch andere Mächte der Bewegung standen, welche weit über die Ziele 
des Landtags hinaus strebten. Die radikale Partei, deren Macht im 
Lande sich doch nicht mehr verkennen ließ, fand auf dem Landtage 
keinen einzigen Wortführer; nur dann und wann verriet sich in ein- 
zelnen Außerungen der bäuerlichen Abgeordneten ein tiefer, verhaltener
	        
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