Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

630 V. 8. Der Vereinigte Landtag. 
gebildeten, germanisierten Juden nicht wünschen konnten, als eine selb— 
ständige Nation neben ihren deutschen Mitbürgern aufzutreten. Wurde 
dieser Fehler noch ausgemerzt, so bot der Gesetzentwurf den Juden in 
der Mehrzahl der neuen Provinzen unleugbar eine dankenswerte Er— 
leichterung. Sie erlangten fortan vollständige Gleichheit der bürgerlichen 
Rechte und Pflichten; nur die landständischen Rechte, die eigentlich 
obrigkeitlichen Ämter und ein Teil der Lehrerstellen blieben ihnen noch 
versagt. 
Preußens Judenschaft bestand aus sehr ungleichen Schichten. Zu ihr 
zählten die großen und kleinen Geschäftsleute, darunter viele hochgeachtete; 
sodann die buntgemischte Schar der Gelehrten, Ärzte und Literaten, die 
zum Teil durch ihre radikale Gesinnung den Behörden lästig, aber bürger— 
lich achtbar waren. Dazu endlich ein entsetzlicher Pöbel, der außer einigen 
ehrlichen armen Leuten eine Unzahl von Wucherern und Güterschlächtern, 
Trödlern und Roßtäuschern, Schnaps- und Bordellwirten, Faktoren und 
Schadchen, Hausierern und Schnorrern, Hehlern und Stehlern umfaßte; 
die deutsche Gaunersprache war ja mit hebräischen Worten überladen. 
Diese Hefe des Judentums saß vornehmlich im Großherzogtum Posen, 
in ihr hatte sich aller Schmutz der polnischen Geschichte abgelagert; deutsch 
war an diesen Leuten mit dem stinkenden Kaftan und den Locken des 
Gesetzes noch nichts als ihre abscheulich verhunzte Sprache. Darum hatte 
der preußische Staat die Judenschaft Posens von jeher nach besonderen 
Gesetzen behandelt und sie neuerdings (1833) förmlich in naturalisierte 
Juden und Schutzjuden eingeteilt. Der Schutzjude durfte weder das Bür- 
gerrecht in den Gemeinden erwerben noch in eine andere Provinz über- 
siedeln; wenn er aber ein ehrbares bürgerliches Gewerbe trieb oder ein 
kleines Landgut bewirtschaftete oder seine Wehrpflicht untadelhaft er- 
füllte oder auch nur von den Ortsbehörden ein Zeugnis der Würdigkeit 
erhielt, dann erlangte er leicht die Naturalisation und damit alle Rechte 
der Juden in den alten Provinzen. Diese auf Betrieb des liberalen Ober- 
präsidenten Flottwell ergangene Verordnung wirkte sehr wohltätig; die 
besseren der kleinen Posenschen Juden suchten sich an deutsche Sitte und 
geregelte Arbeit zu gewöhnen, um dadurch zur Naturalisation zu gelangen. 
Währte diese heilsame Beschränkung noch eine Reihe von Jahren hindurch, 
dann konnte man vielleicht hoffen, die jüdische Einwanderung nach Berlin 
und den Nachbarprovinzen, die sich auf die Dauer doch nicht abwenden ließ, 
einigermaßen zu regeln, so daß sie nicht zur offenbaren Landplage wurde. 
Die Schranke plötzlich hinwegzunehmen, war schon darum unratsam, weil 
die Juden aus dem russischen Polen, die noch viel tiefer standen als 
ihre Posener Stammgenossen, bereits gierig nachdrängten und ihr 
Einbruch schwer zu hindern war. Auch die Ausschließung der Juden 
von den Staatsämtern entsprach unzweifelhaft der im Volke vorherrschen— 
den Gesinnung, denn alle Obrigkeit bedarf des Ansehens und des Ver—
	        
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