Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

634 V. 8. Der Vereinigte Landtag. 
mahnte Beckerath salbungsvoll: „Lassen Sie uns keinen, dem Gott das 
unvergängliche Siegel seines Ebenbildes auf die Stirn gedrückt hat, aus— 
schließen aus dem Kreise menschlicher Berechtigung!“ Aber das Menschen— 
recht bestritt den Juden niemand, sondern nur das Recht, Staatsämter 
in einem christlichen Volke zu bekleiden. Ebenso unglücklich sprach Minister 
Thile, als er endlich seine schweigsamen Lippen zu einer Rede, die einer 
Predigt glich, öffnete. Er meinte, der Jude könne niemals ein Deutscher, 
ein Preuße werden, sein Vaterland sei Zion — eine Behauptung, die 
doch nur auf die kleine Zahl der streng gläubigen Israeliten zutraf. Auch 
Eichhorn zeigte sich nicht als wirksamer Redner, als er die Idee deschrist— 
lichen Staates verteidigte. Diese christlichen Doktrinen überschüttete dann 
Vincke mit der Lauge seines Hohnes, in einer blendenden, aber höchst 
unklugen Rede, die geradezu darauf auszugehen schien, den frommen König 
in seinen heiligsten Gefühlen zu verletzen, und im Grunde nur flaches 
Gespött enthielt. Unter schallendem Gelächter führte er aus: ein christ— 
licher Staat sei doch unmöglich, da die Bibel sage: du sollst nicht töten 
— und was der Witze mehr war; daß dieselbe Bibel tief ernst von der 
Notwendigkeit des Krieges und der Hinrichtungen spricht, schien er gar 
nicht zu wissen. Mit der ganzen Dreistigkeit der Sarmaten empfahl nach- 
her der Pole Jaraczewski die Emanzipation der Juden, damit seine Heimat 
Posen von der üÜberzahl ihrer Israeliten entlastet würde; um die ge- 
duldigen deutschen Nachbarn zu beschwichtigen, sagte er tröstend: die Juden 
glichen dem Wasser, das aufgestaut leicht versumpfe und das Land ver- 
peste, aber frei durch die Gefilde dahinströmend alle seine wohltätigen 
Eigenschaften zeige. 
Der liberalen Mehrheit behagten die fröhlichen Weissagungen des 
Polen weit mehr als die Warnungen des Pommern v. Thadden--Trieg- 
laff, der, im schärfsten Gegensatze, „die Emanzipierung der Christen von 
den Juden“ verlangte und namentlich die Wirksamkeit jüdischer Lehrer 
in christlichen Schulen gefährlich fand. Thadden war eines jener Ori- 
ginale, wie sie in dem erregten Gemütsleben der Erweckten, der Stillen 
im Lande sich zuweilen ausbilden, ein gottseliger Kriegsmann aus den Be- 
freiungskämpfen, tief fromm, von kindlicher Sittenreinheit, mildtätig bis 
zur Verschwendung, aber ganz und gar kein Kopfhänger, vielmehr heiter, 
überaus witzig, vielbelesen, frei von Menschenfurcht und darum gern bereit, 
den Gegnern seiner hochlegitimistischen Gesinnung jeden Freimut zu ge- 
statten. Wer ihm näher trat, mußte den Patriarchen Hinterpommerns 
lieb gewinnen; die Liberalen aber hielten ihn kurzweg für einen Narren. 
Nicht viel höher schätzten sie seinen jungen Liebling Bismarck, der 
jetzt ebenfalls die Lehre vom christlichen Staate verteidigte. Naiv wie 
der Genius ist, bekannte sich Bismarck zu der naturwüchsigen Empfindung, 
die in der Masse des deutschen Landvolks unleugbar vorherrschte: „ich 
würde mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen, wenn ich mir als Re-
	        
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