Lolas Flucht. Der alte Kurfürst. 663
standes geschädigt durch die fortschreitende Entartung des hessischen Kur—
hauses. Wie viele Diplomaten ganz verschiedenen Schlages hatten nun
schon den preußischen Hof in Kassel vertreten: erst Hänlein, der schwer—
fällige Regensburger Reichsjurist, dann dessen lebenslustiger Sohn, darauf
der sarkastische Canitz, der über seine geliebte hessische Heimat doch so mild
wie möglich urteilte, dann Stach v. Goltzheim, ein beschränkter Kopf, jetzt
endlich der streng klerikale westfälische Graf Galen, der einst wegen des
Kölnischen Bischofsstreites aus dem diplomatischen Dienste ausgeschieden,
unter dem neuen Könige jedoch wieder eingetreten war. In einem aber
stimmten alle preußischen Gesandtschaftsberichte vollständig überein: in der
Entrüstung über dies gewissenlose Fürstengeschlecht, das am Berliner Hofe
doch stets als treuer Bundesgenosse betrachtet wurde. Der Kurprinz-Mit-
regent schien selbst zu ahnen, wie die Nachwelt dereinst über ihn richten
würde; er ließ alle wichtigen Akten über sein Regiment so sorgfältig be-
seitigen, daß sich heute im Marburger Archiv schlechterdings nichts über
diese Zeiten vorfindet. Mit gewaltsamer Selbstüberwindung bewahrte
sich das hessische Volk seine dynastische Treue; zum höchsten Geburts-
tage sang ein patriotischer Dichter: „ein Lebehoch erschall'“ im Jubeltone
dem teuren Vater und dem teuren Sohne!“ Der teuere Sohn war aber
dermaßen verhaßt, daß Stach v. Goltzheim tief betrübt gestehen mußte:
ich kenne keinen einzigen aufrichtigen Anhänger und Verehrer des Kur-
prinzen.“) Das Volk begann schon, sich nach dem Vater zurückzusehnen,
der immer noch grollend außer Landes weilte.
Als die unglückliche Kurfürstin Auguste starb und der alte Herr nun-
mehr sofort seine Reichenbach heiratete (1841), da bat ihn der Kasseler
Magistrat durch eine streng geheim gehaltene Adresse, er möge mit seiner
ehelichen Gemahlin in seine Hauptstadt zurückkehren.“) Nicht lange darauf
starb auch die Gräfin Reichenbach, und nun schloß der Kurfürst eine dritte
Ehe mit einer Tochter des Landes, einer Freiin von Berlepsch, die zur
Gräfin Bergen erhoben wurde. Da er mit dieser achtungswerten liebens-
würdigen Frau fortan ganz ehrbar zu Frankfurt in seiner schönen Villa
am Mainufer lebte und nur noch zuweilen einmal zu der nahen Homburger
Spielbank hinüberfuhr, so waren die Kurhessen jetzt bereit, ihren gebesser-
ten Landesvater mit offenen Armen aufzunehmen. Der Sohn aber zitterte
vor der Rückkehr des Vaters, er bat die beiden Großmächte flehentlich
um Schutz und reiste einmal selbst nach Schlesien zu König Friedrich
Wilhelm, um sich der preußischen Hilfe zu versichern. Unnötige Angst.
Der alte Kurfürst war mit nichten gemeint, sein Stillleben aufzugeben;
die vielen Liebesbeweise aber, die ihm jetzt aus der Heimat zukamen,
taten ihm wohl, in seinen letzten Jahren söhnte er sich mit den Land-
*) Stachs Bericht, 4. Nov. 1841.
**) Stachs Bericht, 21. Aug. 1841.